O Vienna!

O Vienna!

Im Juni 2004 landete ich in Wien, wenngleich Auslandsaufenthalte bei mir immer spärlich gesäht waren und Flugreisen noch spärlicher. Das alleine hätte die Sache dennoch nicht spannend gemacht. Der Flug von Stuttgart nach Wien ist selbst für Phobiker nicht lang genug, um ausgereifte Panik zu entwickeln und ich hatte ja nicht einmal das vor.

Der dreitägige Ausflug nach Wien gehörte zu diesen typischen Treffen des „Arbeitskreis Freizeiten“ (AKF) des Kreisjugendrings: Keiner von uns konnte ernsthaft sagen, ob nun mehr gefeiert oder mehr gearbeitet wurde. Ich habe aus all diesen Treffen zwischen Mettelberg und eben Wien eine Menge mitgenommen, ich habe selten so viel und intensiv gelernt wie dort – aber auch selten größere Mengen Alkoholika vernichtet oder mehr Unfug angestellt als an den zahllosen Wochenenden, die ganz hochoffiziell der pädagogischen Fortbildung dienten.

Was wir in Wien nebst obligatorischer Stadtbesichtigung genau gemacht haben, kann ich beim besten Willen nicht mehr sagen, aber es ging um irgendwelche grundlegenden Freizeitkonzepte. Und ums Feiern, wie gesagt.

Unsere Truppe bestand aus rund 20 Leuten, die sich mehr oder weniger gut kannten, meist aber schon entweder solche Treffen zusammen hatten, oder aber schon gemeinsam auf Kinder losgelassen wurden.

An den Vormittagen wurde hart gearbeitet und auf den Touren durch die Stadt sogen wir die nur entfernt ans Deutsche erinnernde Kultur wissbegierig in uns auf. Wir stellten erstaunt fest, dass man eine Spezi schon mal in zwei getrennten Flaschen erhält und die Eiskugeln bei Hundertwasser ums Eck auch mal würfelförmig sein können. Wir bestiegen Türme, fotografierten wie blöde irgendwelche Gemäuer, staunten über dies und das und aßen die berühmten, riesigen, ansonsten aber todlangweiligen Schnitzel beim Figlmüller.

Mit den Unterkünften am Stadtrand war es nicht so weit her. Die Verpflegung war mies und wegen der gerade mal 1,90 Meter langen Betten hatten Dirk, Guido und ich unsere Matratzen gleich am ersten Abend auf den Boden geworfen um dort zu nächtigen. Zugegeben: Unter uns dreien war ich mit 2,03 Metern Größe noch der Kleinste, das erklärt vielleicht ein wenig die Radikalität, mit der wir das angegegangen sind.

Unsere Abreise sollte in den frühen Morgenstunden erfolgen, weswegen am letzten Abend die komplette Zimmerbesetzung inklusive mir beschloss, bereits am Vortag auszuchecken, die Reisekasse damit empfindlich zu entlasten und die Nacht in der Stadt zu verbringen. Unser Gepäck verblieb im Hotel und wurde vom Rest der Truppe betreut und morgens mitgebracht. Party bis zum Morgengrauen war angesagt, ein Unterfangen, das nicht allzu schwer umsetzbar schien.

Die Gruppendynamik tendierte immer mehr in Richtung Clubnacht – mir lag das zu diesem Zeitpunkt gar nicht. Ich hatte die Leute gerne, mit denen ich unterwegs war, aber nach drei Tagen machte sich in mir eine gewisse Müdigkeit breit. Das gleichermaßen geniale wie auch auf Dauer schwierige an den AKF-Besetzungen war die Vielfalt der Teilnehmer.

Ich weiß nicht mehr, woran es genau gelegen hat, aber als wir im Laufe des Abends ein Lokal verließen, habe ich mich von der Gruppe losgesagt. Ich hatte keine Lust auf überteuerte Getränke, auf elektronische Musik, oberflächliche Unterhaltungen. Im Zweifelsfall war mir Alleinsein lieber. Darauf lief es tatsächlich hinaus. Niemand sonst wollte sich für Kneipe statt Club entscheiden, niemand wollte reden, alle wollten sie die eine, ultimative und beste Nacht in Wien.

Ich für meinen Teil habe genau das bekommen. Nur auf etwas andere Art und Weise.

Die Nacht war klar und warm, einen wirklichen Plan hatte ich nicht. Besonders herzlich verabschiedet worden bin ich von den Mädels, bei denen ich mir am wenigsten sicher war, ob sie nicht vielleicht froh darüber waren, dass ich als Spielverderber das Weite gesucht habe. Dabei war und bin ich bei der Abendgestaltung im Vergleich zu meinem eigentlichen Geschmack und meinen eigentlichen Vorlieben immer ausgesprochen tolerant und kooperationsfähig. Aber mit gerade noch 30 Euro in der Reisekasse und null Verständnis, warum das in einer guten Nacht nicht für einen Vollrausch reichen sollte, war an einen Club nicht zu denken.

So schlenderte ich mutterseelenallein an eine Tankstelle am Schwedenplatz, besorgte mir mehrere Dosen Beck’s für 1,85 Euro. Das beflügelte erst recht meine Vorstellung davon, was ich im Club wohl gezahlt hätte.

Die Dosen in einer dieser unzureichenden Tankstellen-Plastik-Tüten verstaut, setzte ich mich irgendwo am Rande des ausgedehnten Areals des Platzes auf eine Parkbank und starrte in die Nacht. Ich genoss zwar den Wind, hab aber von meiner Umwelt so wenig mitbekommen, dass mir erst jetzt – Jahre später – bei meiner Recherche klar wurde, dass der Platz am Wasser liegt.

Es war noch in den Abendstunden, als der erste Bügel sich ins Weißblech bohrte und ich genüßlich das prickelnde Bier in mich hineinschüttete.

Dass der Schwedenplatz nachts vielleicht nicht die beliebteste Touristenattraktion sein könnte, wurde mir klar, als sich ein etwas schräger Typ in meine Nähe setzte und mich fragte, ob ich etwas Gras kaufen möchte.

Um diese Zeit etwa kamen zufällig drei Leute aus meiner Gruppe vorbeigelaufen und haben mir gezeigt, weswegen ich mit meiner Entscheidung richtig lag. Jochen sah mich an, blickte auf mein Dosenbier und stieß fassungslos hervor:

„Des is‘ nich dein Ernst jetzt!?“

Angel drehte sich gleich ganz weg, was in Anbetracht der Tatsache, dass sie ein überaus attraktives und nettes Mädel war, mit dem ich gerne die Nacht auch auf diesem Platz verbracht hätte, etwas weh getan hat – aber so war es.

Die beiden und irgendjemand drittes versuchten mich noch kurz mit Einladungen zu ein zwei Drinks zu überreden, waren aber offensichtlich nicht wirklich traurig, dass ich abgelehnt habe.

Ironischerweise hat ihnen ausgerechnet der versiffte Typ neben mir mit seinem Joint und seinen verdreckten Skater-Hosen den Weg zu ihrem Club gezeigt.

In den folgenden Stunden bin ich mit dem Typen ins Gespräch gekommen, über ihn, mich, Wien, das Leben. Er bot mir an, mit ihm eine Tüte zu rauchen und wir verbrachten eine recht heitere Zeit dort. Zwischendurch amüsierte unsere bierselige Beisammenkunft das Auftreten einer Gruppe junger Punks. Die Gespräche wurden ein wenig politischer, das Bier floss schneller und irgendwann haben wir unsere Finanzen gecheckt und sind an der Tanke Nachschub holen gegangen.

Natürlich haben wir uns in fast nichts von einer der üblichen Ansammlung von obdachlosen Trinkern unterschieden, auf die Idee, dass ich Tourist sein könnte, wäre niemand gekommen, der nicht ein paar Worte mit mir gewechselt hat.

Aber es sah schlimmer aus, als es war. Ich hab zwar bis zur Morgendämmerung neun große Bier vernichtet, der großzügige Zeitrahmen unserer Diskutiererei sorgte indes dafür, dass unsere Zurechnungsfähigkeit zu jedem Zeitpunkt zumindest den Umständen entsprechend gegeben war. Aber zugegeben: Die Umstände waren auch seltsam.

In tiefster Dunkelheit gesellte sich irgendwann ein paranoider Verschwörungstheoretiker zu uns, erzählte uns eine Viertelstunde lang etwas von geheimen CIA-Basen in Wien und erklärte uns, warum es absolut nützlich sei, immer eine Auto-Antenne bei sich zu tragen. Eine selbstgepflückte Auto-Antenne, versteht sich.

Glücklicherweise war er nur ein vorübergehendes Phänomen. Die Nacht wurde dunkler, die Temperaturen sanken, dennoch breitete sich eine geradezu gemütliche Stimmung über dem Schwedenplatz aus, in der selbst ich und mein quasseliger Nachtbegleiter irgendwann ruhig dasaßen und wortlos unseren Gerstensaft tranken.

Die Nacht hielt viele schöne Momente, Lichtblicke im Alltag und Einblicke in Kurioses bereit, abgesehen von meiner sich anschleichenden Müdigkeit gab es keinen Grund, mit der Dämmerung den heraneilenden Tag zu begrüßen. Zu fasziniert beobachteten wir die unterschiedlichsten Menschen. Einsame Typen, die durch die Dunkelheit schlichen, Pärchen, die ihre Schritte beschleunigten, wenn sie uns sahen und hier und da einen in Mülltonnen wühlenden Obdachlosen, der von uns gar nichts mitbekam.

Da ich aber keinesfalls den Bus zum Flughafen verpassen wollte, bin ich mehr als überpünktlich und leicht alkoholisiert zur gar nicht weit entfernt liegenden Bushaltestelle gewackelt. Mein Begleiter über die letzten Stunden war inzwischen auch irgendwo verschwunden, unsere Verabschiedung war herzlich, aber kurz.

Die Suche nach dem richtigen Bus sollte sich noch zu einer Herausforderung entwickeln, und der sich abzeichnende Sonnenaufgang half mir nicht wirklich dabei. Ich entdeckte den richtigen Haltepunkte nach einem ziemlich umfassenden Studium diverser Pläne irgendwo noch hinter einer Hausecke. Das Warten auf die anderen wurde irgendwann unheimlich, da keiner kam.

Und ganz abgesehen von meinem ramponierten Zustand nach einer Nacht auf der Straße war ich ohne Geld und Gepäck nicht gerade ausgestattet für eine alternative Heimreise oder eine weitere Nacht in der österreichischen Hauptstadt.

Als ich kurz vor der Abfahrt naheliegenderweise panisch ums Eck getorkelt bin, hab ich dann gesehen, dass alle – die ganze Gruppe! – treudoof an der falschen Haltestelle warteten.

Genau genommen ist dies also nicht nur die Geschichte von einem Menschen, der eine Nacht in einer fremden Stadt auf der Straße am Trinken war. Es ist auch die Geschichte von einem Menschen, der weil – oder obwohl – er losgelöst von seiner Gruppe eine Nacht auf der Straße am Trinken war, dafür gesorgt hat, dass all die anständigen Leute gut und rechtzeitig zum Flughafen gekommen sind.

Am Airport lag ich eine halbe Stunde müde auf einer Bank herum und träumte von umherstreifenden Irren, die einem die Auto-Antennen klauen, um uns vor der CIA zu beschützen, als Steffi mich zögerlich fragte, ob ich wirklich die ganze Nacht alleine da draußen gewesen wäre.

„Nein!“, alleine sei ich keineswegs gewesen, sagte ich. Und ich erzählte von den Punks und dem Spinner und auch meinem Freund für eine Nacht.

„Ganz schön gefährlich!“ befand Steffi. Im Nachhinein habe ich erfahren, dass Angel im Club fast der Geldbeutel geklaut wurde und einer von den Jungs nur mühsam einer Schlägerei entgehen konnte. Außerdem war die Polizei wegen einer Messerstecherei vor Ort. Das erklärt vielleicht, weswegen ich diese Einstellung nie geteilt habe …

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