Ich wusste jetzt, dass Zeitarbeit im Wesentlichen bedeutet, mies bezahlt und umhergeschubst zu werden. Von weiteren Bewerbungen abzusehen war leider dennoch nicht drin, da mein Brötchengeber Anfang 2008 die Bundesagentur für Arbeit war, die mich – Überraschung! – noch mieser bezahlte und noch mehr umherschubste.
Das Büro der zweiten Zeitarbeitsfirma wirkte auf den ersten Blick deutlich gemütlicher als das eine Woche zuvor. Die Räumlichkeiten waren wesentlich kleiner und dieses Mal fand das Eingangsinterview auch nicht in einem kantinenähnlichen Großraumbüro statt.
Eine gut gelaunte und scheinbar ernsthaft an mir interessierte Mittvierzigerin mit blonden Haaren und Angela-Merkel-Dekolleté scherzte sich mit mir durch das Vorstellungsgespräch, wobei sich zeigte, dass kennste-eine-kennste-alle bei Zeitarbeitsfirmen dennoch keine unangebrachte Phrase war. Der Arbeitsvertrag hatte einen anderen Kopf, die Bedingungen aber waren bis aufs letzte Komma identisch.
Wieder sollte ich die Füße stillhalten, bis sie mich in Lohn und Brot bringen könnten und wieder bekam ich am Tag darauf bereits den Befehl, anzutraben. Aber wenigstens alles ein bisschen netter und ein bisschen weniger als wäre ich nur der Kaugummi unter ihren Schuhsohlen. Fürs erste war ich zufrieden.
Bevor ich meine erste Stelle antreten durfte, wurde ich ermahnt, der Firma keine Schande zu machen. Der Auftraggeber hätte schlechte Erfahrungen mit Zeitarbeitern, mein Vorgänger wäre gefeuert worden, weil er während der Arbeit Drogen konsumiert hätte.
Nicht dicht zur Arbeit kommen?
Ich ging leichtsinnig davon aus, diese Vorgabe locker einhalten zu können.
Die füllige Bürodame durchbrach meine Gedanken mit der Frage, ob ich Sicherheitsschuhe besäße.
Da war er also: Der Haken, der immer irgendwo lauert. Sicherheitsschuhe! Na logo. Ich war nach all den Jahren, in denen ich meine Quadratlatschen lieb gewonnen hatte, immer noch froh, überhaupt irgendwelche Schuhe zu bekommen. Wenn es dann keine Basketballtreter waren, die mich unnötigerweise noch einmal fünf Zentimeter größer machten, sah ich das schon als große Erfüllung und glückliche Fügung an. Und nun? Sollte dieser Job etwa daran scheitern, dass es keine verdammten Sicherheitsschuhe in Größe 50 gibt?
Nein. Für wirklich nicht übertriebene 60 € organisierte mein neuer Arbeitgeber mir sogar Schuhe mit Stahlkappen. In Größe 50. Es war mir bis dato nicht bekannt, dass so etwas lieferbar war, ohne dass man neun Wochen Wartezeit zu ertragen hatte, weil irgendein Sklavenhalter in Lampukistan für die Herstellung zunächst mal drei neue Kinder entführen müsste.
So aber kam es, dass ich kurz darauf als Leiharbeiter mit Sicherheitsschuhen pünktlich eine Viertelstunde vor Schichtbeginn bei einer Firma in Wilhelmsruh ankam und erwartete, nähere Infos vom Abteilungsleiter zu bekommen.
Darauf hätte ich lange warten können.
Über diese und jene Wege wurde ich in die große und mit allerlei metallverarbeitenden Maschinen voll gestellte Fabrikhalle geschleust und dort von einem etwas an einen Hippie erinnernden Schichtführer mit zwei weiteren Zeitarbeitern einem Arbeitsplatz zugeteilt, der sich mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich erschloss. Wir fanden uns zu dritt zwischen Regalen und einer Maschine, die komische Geräusche machte, sowie einigen Kisten mit Wasser wieder.
Darüber hinaus stapelten sich um uns herum dutzendweise Behälter mit Serverblenden – also diesen Metallschienen, die auf der Rückseite so ziemlich jeden Computer zieren und verhindern, dass neben den Steckern der Dreck ins Gehäuse fliegt.
Davon lagen zigtausende herum und mir drängte sich der Gedanke auf, dass das wohl kein Zufall war und ich jetzt „irgendwas mit Computern“ machen sollte.
Meine beiden Mitstreiter und ich bildeten ein höchst ungleiches Trio. Markus war etwa so alt wie ich, hatte ein Milchbubigesicht, die Statur eines kleinwüchsigen Balletttänzers und das Rückgrat eines Schleimpilzes. Er arbeitete bereits seit drei Monaten in der Fabrik und buckelte vor allen Festangestellten, da er selbst unmittelbar davor stand, übernommen zu werden. Statt 6,42 € würde ihm das 7,50 € Bruttolohn bringen und für die 1,08 € schien er bereit zu sein, alles zu tun. In die Quere kam ihm dabei aber seine Schüchternheit, die ihm in manchen Situationen sogar verbot, überhaupt irgendwas zu tun.
Daneben gab es Herbert, einen kräftig gebauten und Vokuhila tragenden Mann mit grobem Händedruck. Er war wie ich den ersten Tag in dieser Firma, hatte allerdings schon einige Erfahrungen mit der Zeitarbeit gesammelt. Ihm waren sowohl die Arbeit vor Ort als auch sein Job in der Leihbude scheißegal. Er wusste, dass er mit einem Hungerlohn abgespeist wurde und dass er, würde er fliegen, am nächsten Tag woanders arbeiten könnte.
Und ich, naja, ich wollte halt ein paar Euro verdienen bis mir etwas Besseres einfiel.
Der eigentlich zuständige Abteilungsleiter gab sich – wie wir schnell erfuhren – gar nicht mit Zeitarbeitern ab. Zumindest nicht mit solchen, deren Übernahme nicht geplant war. Jegliches Willkommen und auch rechtlich vorgeschriebene Sicherheitsbelehrungen fielen damit aus und Markus wurde die Aufgabe zuteil, Herbert und mir die Arbeit zu erklären. Die sollte „nicht arg schwierig“ sein, was stark untertrieben war. Herbert und ich sollten pusten. Im Ernst.
Markus bediente die laut brummende Alienbesohlungsmaschine, die sich alsbald als schnöde Metallbürste herausstellte. Durch diese schob er die Serverblenden – damit sie so hübsch aussehen, wie wir alle sie kennen. Beim Bürsten wurden die Blenden naßgehalten und die fertig gebürsteten Teile mussten Manfred und ich anschließend mit Druckluftpistolen trocken pusten. Anbei zusehen, dass nirgends Kratzer waren und sie dann in schön ansehnlich in Kisten stapeln.
Als Schichtvorgabe galt die Zahl von 1800 Blenden, am ersten Tag schafften wir 1100.
Markus spielte notgedrungen den Animateur vom Dienst, lobte uns zwei über alle Maßen und stellte in Aussicht, dass wir in den kommenden Tagen die Vorgabe locker würden einhalten können. Das war natürlich eine Lüge.
Die Arbeit war so strunzdumm, dass man nach der ersten halben Stunde spätestens den optimalen Bewegungsablauf verinnerlicht hatte und es schlicht nichts mehr zu verbessern gab. Überhaupt lag das Tempo wesentlich weniger an Herbert und mir als an Markus, der nur eine begrenzte Anzahl an Serverblenden durch die Bürste ziehen konnte, da er sie zuvor in eine Passform legen musste, in die nur 3 Blenden passten.
Bereits am zweiten Tag sollten wir erfahren, wie man auch die blödeste Arbeit in einer entsprechend geführten Fabrik völlig ad absurdum führen konnte.
Unsere Fehlerkontrolle war eine Farce sondergleichen:
Bemerkten wir Kratzer in einer der Blenden, landete diese nicht in den zu versendenden Kisten – wer zahlte schon den vollen Preis für Serverblenden mit verkratzter Innenseite? – sondern wieder bei Markus unter der Bürste. Das konnte ich noch nachvollziehen, schließlich ließen sich viele Schäden durch erneutes Bürsten ausbessern. Aber: Nicht alles ließ sich mit Bürsten beheben, so dass manche Blenden zwei- oder dreimal durch unser aller Hände gingen ohne je fertig zu werden. Am Ende landeten sie dann im Ausschuss. Absurd wurde das Ganze, als man uns erklärte, wir sollten gelegentlich auch den Ausschuss wieder durch die Bürste ziehen.
Im Grunde bedeutete das nichts anderes, als dass wir umso schlechtere Stückzahlen vorweisen konnten, je gewissenhafter wir unsere Kontrolle vornahmen.
Und an Tag zwei – nachdem abzusehen war, dass wir die Vorgabe abermals nicht im Entferntesten würden einhalten können – lernten wir auch endlich den Abteilungsleiter kennen. Er präsentierte sich uns als rachsüchtiger Gnom mit sicher ungewollter Glatze, der sich bei jedem Regelverstoß durch die Halle tobte und bei dem es keines professionellen Gutachtens bedurfte, um ihm eine Therapie gegen seine Minderwertigkeitskomplexe zu empfehlen.
Das hätten Herbert und ich auch gerne getan, alleine: Wir waren ja die untersten Untergebenen und somit kamen wir nie in den Genuss, uns einen persönlichen Rüffel abzuholen, sprich überhaupt mit ihm zu sprechen. Der Zwerg folgte der strengen Hierarchie in der Firma und machte Markus dafür zur Sau, dass Herbert und ich offenbar nicht vernünftig arbeiten würden. Und Markus hielt die Klappe, weil er um seine Übernahme fürchtete.
Natürlich versuchte unser verschüchterter Milchbubi, den Druck an Herbert und mich weiterzuleiten, allerdings mit wenig Erfolg. Nicht nur, weil es uns egal war. Herbert und ich arbeiteten locker alle Blenden ab, die Markus uns vorlegte und wir hatten dennoch Zeit für ausgiebige Raucherpausen.
„Wat soll ick meiner nächsten Bude denn über die Arbeit hier sagen? Ick meine, was mach ick hier eigentlich?“
„Naja, vielleicht schreibste, dass Du Bläser warst …“
„Nee, det is nich technisch jenuch!“
„Wie wär’s mit Assistant Chief of Pneumo-Blasting?“
„Det is jut!“
Herbert und ich waren also fortan amüsierte Assistant Chiefs of Pneumo-Blasting und Markus verzweifelte an der Bürste. Wir haben dauernd versucht, ihn zu überzeugen, die Sache nicht zu ernst zu nehmen. Leider war der Kleine viel zu verzweifelt, um sich unsere Lockerheit aneignen zu können.
Ich selbst legte es zwar auch nicht drauf an, den Job zu verlieren, war aber auch nicht blöd genug, mir die Arbeit wichtig zu reden. Wenn ich heimkam, schmerzte der Rücken vom ungewohnt langen Stehen – mit Stühlen wäre die Arbeit wahrscheinlich nicht beschissen genug gewesen – und der Lohn war allenfalls hoch genug um nicht zu verhungern. Wie alles, was ich bis dato getan hatte, wollte ich es irgendwie gut machen, aber nicht um den Preis der totalen Selbstaufgabe.
Im Grunde hätte dieser leicht lächerliche Tanz auf dem Vulkan (der Geduld des Abteilungsleiters) ewig so weitergehen können, stattdessen aber kam es noch schlimmer. Es waren keine dreieinhalb Tage ins Land gezogen, da ließ Markus‘ Bürste immer mehr nach. Waren die Serverblenden ursprünglich nach einem Durchgang bis auf wenige Ausnahmen vorzeigbar, musste er nun die selben Teile wieder und wieder durchziehen. Der Firmenleitung wurde das umgehend gemeldet, passiert ist indes nichts. So sank unsere Produktivität ins Bodenlose. Markus mühte sich an der Bürste ab, Herbert und ich hielten Maulaffen feil und verbrachten die halbe Schicht in der Raucherecke und kehrten nur alle 20 Minuten mal zu unserem Arbeitsplatz zurück, um die spärliche Ausbeute an akzeptablen Blenden mal eben trockenzupusten.
Dass wir unproduktiv waren, wussten wir – aber da wir ja schließlich alles machten, was wir nur tun konnten, wähnten wir uns auf der sicheren Seite. Diese Rechnung hatten wir freilich ohne die Cholerik des kahlköpfigen Leitungsgnoms gemacht.
Der hatte nämlich einen Lösungsvorschlag, der uns die Gesichtszüge entgleisen ließ – eine Arbeitsanweisung direkt aus Schilda:
Da unser Team – kaputte Bürste hin oder her – so wenig arbeitete und wir ständig nur rauchen würden, würde nunmehr pro Schicht nur noch eine Zigarettenpause vor und eine nach der Mittagspause erlaubt sein.
Abgesehen von unserer Laune änderte das freilich gar nichts. Am vierten Tag ging dann die Bürste komplett kaputt und unsere Produktivität sank endlich wie offenbar von der Leitung angestrebt auf Null.
An diesem Punkt wurde sogar der Firmenleitung klar, dass man dieses Problem nicht mit Pausenverboten lösen könne und um eine Reparatur nicht herumkommen würde. Herbert und ich durften früher gehen, natürlich mit entsprechend gekürzter Stundenzahl, sprich: Weniger Geld. Mit Leiharbeitern kann man’s ja machen!
Wir haben den Schichtleiter, der uns unsere Stundenzettel unterschreiben musste, auch gleich gefragt, ob wir informiert werden würden, wenn die Bürste am nächsten Tag auch noch defekt wäre. Schließlich hatten wir beide keine Lust auf eine (uns auch noch Geld kostende) Anreise ohne Sinn. Na sicher würden wir informiert!
Pustekuchen.
Am nächsten Morgen, wieder um 4 Uhr zur Frühschicht aus dem Bett gekrabbelt und mich in die S-Bahn geschwungen, stellte ich bei der Ankunft in der Halle natürlich fest, dass genau das unterlassen wurde.
Antanzen, doof gucken und wieder heimfahren: Hat mich an diesem Tag zwei Stunden Wegstrecke und 4,20 € gekostet, mir kein Geld eingebracht und entsprach damit nicht unbedingt der Kosten-Nutzen-Rechnung, die ich mir selbst für ein Angestelltenverhältnis unter beschissenen Bedingungen aufgestellt hatte.
Am Tag darauf holte mich meine Krankheit wieder ein. Wie ich inzwischen weiß, war es nicht nur eine Erkältung, sondern ein Pfeiffersches Drüsenfieber. Das hört sich zwar schlimmer an als es ist, kann einen aber dennoch ziemlich flachlegen.
Ironische Zeitgenossen werden nach einer Recherche übrigens feststellen, dass man die Krankheit auch durchs Flachgelegtwerden kriegen kann, aber ich erspare mir einen Kalauer zu diesem Thema.
Auf jeden Fall war ich morgens zwar wach, aber weitgehend arbeitsunfähig. Dummerweise begann die Schicht um 6 Uhr. Unsere Ansprechpartner bequemten sich jedoch nie vor 7 Uhr ins Büro und mein Arzt öffnete seine Praxistüren ohnehin erst um neun. Also hab ich – ziemlich blöd, aber gutgläubig – die Schicht angetreten. Ich hatte Fieber und Kopfschmerzen, aber ich wollte zum einen meinen guten Willen zeigen und zum anderen wenigstens persönlich Bescheid sagen, dass ich ausfalle.
Und meine spärliche Hilfe konnten sie brauchen, denn Herbert tauchte an diesem Tag gar nicht auf. Ich hab dem Schichtleiter die gute Nachricht überbracht, dass ich – sobald mein Arzt seine Arbeit antreten würde – weg wäre und jetzt nur pro forma noch ein bisschen helfe.
Aber Undank ist der Welten Lohn. Während ich nach Marzahn fuhr, um meinen Arzt zu fragen, weswegen mich mein Körper diesmal hasste, rief mich die Chefin der Zeitarbeitsfirma an. Was zur Hölle denn da los sei bei mir, wollte sie wissen.
Ich antwortete wahrheitsgemäß und etwas geknickt, dass ich krank sei und auf dem Weg zum Arzt. Dann erfuhr ich von ihr, dass der Kunde – also die Firma, die ich vor einer Stunde verlassen hatte – sich beschwert hätte, ich wäre „abgehauen, weil ich keine Lust mehr hätte“.
„Aha, nehme ich vielleicht auch Drogen?“
Das habe ich nicht laut ausgesprochen, aber nach dieser dreisten Lüge hatte ich eine vage Vorstellung davon entwickelt, was es heißen könnte, wenn diese Firma etwas von Drogen erzählte. Wahrscheinlich hatten sie meinen Vorgänger am Kaffeeautomaten mit einem Cappuccino erwischt.
Mir wurde noch während des Telefonats meine Kündigung ausgesprochen und da ich noch in der Probezeit war, hatte ich auch keine Chance, dagegen vorzugehen. Aber dazu hätte ich das ja erst einmal wollen müssen.
(Dieser Text war ein Kapitel des eBooks „Papa, ich geh zum Zirkus“ von 2013)