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Monat: Mai 2017

Das böse C-Wort

Das böse C-Wort

Das böse C-Wort! Im Restaurant

Manchmal überrascht man sich selbst mit den Links, auf die man am Ende einer langen Twitter-Scroll-Partie geklickt hat. Ach, ich hatte im Hintergrund wirklich das Best-of der Pop-Hits von 1997 geladen? Ich meine, 1997 war ein geiles Jahr … aber in kaum einem Jahr davor oder danach habe ich Pop-Musik mehr gehasst und lieber auf Punk gesetzt. Aber ja, 35-jähriges Ich, zeig mir, was ich damals verpasst habe!

Und dann eine NDR-Doku über Convenience-Food im Restaurant. Ja nee, ist klar. Ich glaube nicht, dass ich mir bis dato groß Gedanken gemacht hätte über Convenience-Food. Oder Restaurants. Oder gar NDR-Dokus. Vielleicht lag des daran, dass ich sie von einer netten Leserin in die Timeline gespült bekommen hatte, vielleicht, weil ich mich davon abzulenken versuchte, irgendwas zu schreiben.

Offenlegung: Deswegen muss ich jetzt diesen Text schreiben.

Hatte ich zu Beginn noch ehrliches Interesse an den Ansichten des braven Kochs, der von Fertigkomponenten in seinem Essen nichts hält, ist meine Meinung ziemlich schnell umgeschlagen, obwohl – oder vielleicht auch genau weil – die Doku ziemlich rüde versucht hat, in eine bestimmte Richtung zu denken. Und ja, das war natürlich die gute alte „Oh nein! Fertigessen! Im Restaurant? Böse!“-Ansicht.

An der Stelle kommen wir schon an den ersten schwierigen Punkt bei der Sache: So sonderlich genau hat niemand die Definition des Begriffs Convenience-Food aufgeschlüsselt. Denn erst einmal sind selbst abgepackter Saft oder Milch Convenience, weil deren unkomplizierter Konsum eben bequemer ist als das direkte Auspressen von Früchten und Kühen.

Und bevor man der Versuchung nachgibt und einwirft, dass man ja keinen Garten habe – und schon gar keine Kuh – stellt man fest, dass das auch auf die meisten Köche zutrifft. Auch Köche kaufen ein. Und so sehr ich Back-to-the-Basics-Koch-Enthusiasten mag: Deren Job ist es, mir ein schmackhaftes Mahl auf den Tisch zu zaubern. Wie sie das machen, kann mir erst einmal egal sein.

Und da haben wir jetzt den Graubereich, den die Doku meiner Meinung nach viel zu ungenau ausleuchtet. Denn selbstverständlich ist Etikettenschwindel und tatsächlicher, juristisch haltbarer Betrug falsch und berichtenswert. Aber im Jahr 2017 darüber jammern, dass einem butterfreie Sauce Hollandaise gereicht wird, obwohl die gerichtliche Entscheidung, dass das ok ist, bereits mehr als 20 Jahre auf dem Buckel hat … da wird meines Erachtens nach ziemlich viel Stimmung erzeugt mit vagen Bildern von Echtheit und Reinheit, die mehr liebgewonnene Folklore sind als Realität. Im „echten“ Chili con carne waren dereinst keine Bohnen und selbst der Bolognese sind die Spaghetti erst in der Moderne als Beilage zugeordnet worden und trotzdem empfindet fast niemand da draußen es als „falsch“, diese Gerichte so zu essen.

So gesehen deckt die Dokumentation nämlich allenfalls etwas auf, was nicht wirklich ein Skandal ist: Die Küche in vielen Restaurants ist heutzutage in der Moderne angekommen. Es geht nicht darum, dass ein Sterne-Koch sich seines Familienrezeptes rühmt und nun skandalöserweise rauskommt, dass es sich um „Maggi fix für Fertigbeton“ handelt. Sicher handeln einige der Restaurants fragwürdig, wenn sie auf Nachfrage behaupten, ihre Sauce Hollandaise sei selbstgemacht, aber wessen Rezepte beinhalten nicht hier und da Fertigkomponenten? Bzw. wo fangen wir an? Bei der haltbar gemachten Milch aus dem Tetrapack, bei Gewürzmischungen wie Curry oder erst bei Bratensaucenpulver von Knorr?

Meine Bratensauce hier zuhause basiert auch auf Pulver. Dazu kommen aber neben dem obligatorischen Wasser noch Knoblauch, Pfeffer, Tomatenmark, Senf, Chilis, Oregano und ein paar frisch angebratene Zwiebeln. Wer will da jetzt urteilen, ob das jetzt „richtiges“ Kochen ist? Und auf welcher Grundlage?

Das Hauptproblem ist, neben dem ganzen Natürlichkeitsquatsch, mit dem zum Beispiel in der „Alternativmedizin“ flächendeckend die Kindersterblichkeit erhöht wird, dass der Anspruch, der hier geltend gemacht wird, nie fixen Kriterien entspricht. Wenn etwas „in der Industrie“ gemischt wird, ist das per se schlechter als wenn das der gute alte Koch macht. Dass allerdings gerade so Kleinigkeiten wie Qualitätskontrollen und Lebensmittelsicherheit industriell viel besser gewährleistet werden kann als von einem einzelnen Küchenchef in einem kleinen Lokal, wird natürlich gar nicht erst angesprochen:

Der Koch muss das schon alles selbst machen!

Warum?

Selbst wenn viele Köche geradezu sprichwörtlich den Brei verderben, haben sie im Laufe der Jahrzehnte im Zusammenspiel mit tausenden Lebensmitteltechnikern halt Mittel entwickelt, mit denen sie (oder die Kunden zu Hause) Arbeitsschritte überspringen oder Dinge einfacher, schneller und/oder günstiger herstellen können. Und das leitet zu einem verdammt wichtigen Punkt über, der mir dann doch seit längerer Zeit ein Dorn im Auge ist:

Diese überbordende Sättigung, mit der wir uns erlauben, hart erkämpfte Entwicklungen als böse zu brandmarken, weil wir es uns leisten können und weil wir gelangweilt sind. Sicher: Unsere Urgroßmütter haben noch fünf Stunden des Tages in der Küche verbracht, um Abends einen schmackhaften Eintopf auf den Tisch zu kriegen. Aber die würden uns den Hintern versohlen, wenn man sie dazu gezwungen hätte, obwohl man das Zeug billiger hätte fertig kaufen können. Es ging halt nicht anders, das war nicht hip, sondern schlicht der Not geschuldet.

Und heute halt Köche: Stehen unter völlig indiskutablen Arbeitsbedingungen bei meist mehr als mäßigem Lohn hinter ihren Pfannen – aber ja, wehe, wenn ausgerechnet die sich irgendwas einfallen lassen, was ihnen die Arbeit erleichtert!

Und dann sitzen die Gäste für den Zuschauer dekorativ in dem Laden, der Fertig-Hollandaise nur leicht modifziert auftischt und erzählen, dass man hier noch merke, dass „richtig“ gekocht würde. Leicht bedeutungsschwanger wird dann gefragt, wie „ehrlich“ das sei. Wohlbemerkt nachdem der Koch das Nutzen von Fertigprodukten erklärt und dazu steht, sie zu verwenden.

Noch einmal: Hier mischt niemand Fleisch in als vegetarisch deklarierte Gerichte, serviert heimlich nicht halal oder verwendet vergammelte Lebensmittel. Auf der Karte wird Sauce Hollandaise versprochen und die Kunden finden’s lecker. Der einzige Aufreger ist, dass die Kunden ohne Nachzufragen davon ausgehen, dass der Betrieb selbstverständlich seit der Sintflut ohne Änderungen aufrechterhalten wird.

Eine Kundin des „guten“ Restaurants, wo alles selbst gemacht wird, hat zuvor erklärt, dass sie sich „eine Maggi-Tüte“ auch zuhause aufreißen könne und sie sich im Restaurant nach einem teuren Essen nicht ärgern möchte, dass es „nur so 08/15 geschmeckt“ hätte. Verständlich. Aber was ist denn, wenn’s einem doch gut geschmeckt hat, wie dieser Kundin offenbar? Hier wird wieder bedeutungsschwanger angedeutet, dass irgendein Kartenhaus zusammenbricht, wenn endlich mal wer aufzeigen würde, dass die gut schmeckende Sauce Hollandaise gar nicht – ja, was eigentlich – gut schmecken kann? Im Übrigen: Selbstverständlich nutzen die Journalisten die Möglichkeit, den betrogenen Bürgern endlich die Wahrheit aufzutischen. Ähm, nein, nicht.
Oder das Filmmaterial wurde einfach nicht verwendet, weil die Reaktion nicht enttäuscht oder geheimnisvoll genug war?

(Sieh mal einer an, wie schnell man mit einem einzigen Fragezeichen alles anrüchig machen kann …)

Diese Vorstellung, dass man nicht nur die Qualität einer Dienstleistung betrachtet, sondern auch noch bestimmen will, wie sie erbracht zu werden hat, die ist ein ziemlich ekliger Auswuchs der Überflussgesellschaft: Wo kein tatsächlicher Mangel zu finden ist, finden sich stattdessen irgendwelche Puristen mit höchst subjektiven Ansprüchen an ein vermeintlich „richtiges“ Vorgehen.

Das muss so ein grundunsympathischer Neid-Reflex sein. Man stellt fest, dass das, was man da gerade gekauft hat, ja doch keine Hexerei ist und dass es deswegen ja eigentlich hätte billiger sein müssen als die Hexerei, die man sich davor erhofft hatte. Dass ein Koch ein ausgewähltes wohlschmeckendes Essen zubereitet, nett anrichtet und das Ganze in einem Restaurant von netten Leuten serviert wird und man sich als Gast wohlfühlt – das ist der Deal!

Den Rahmen, in dem diese Leistung erbracht wird, den geben diverse Richtlinien und Verbote, Deklarationspflichten, Hygienevorschriften etc. pp. vor, nicht ein „Das hatte ich mir aber anders gedacht“.

Und – ich weiß, ich wiederhole mich – das bedeutet nicht, dass man selbst keine anderen Ansprüche haben darf. Natürlich kann man nur bio, nur vegan, nur regional oder ohne Zusatzstoff XY essen wollen. Dann muss man aber halt im veganen Bio-Restaurant mit regionaler Küche ein Essen „ohne XY“ ordern. Ich meine, da draußen rennen auch Leute rum, die was gegen Barcodes, schlechte Schwingungen und Muscheln haben – oder Angst davor, von Gymnasiasten bedient zu werden. Woher soll denn bitte ein Dienstleister wissen, auf was für komische Gäste er noch treffen könnte?

Aber klar: Richtig ist immer genau das, was man selbst für „normal“ hält, nicht wahr? 😉

Am Ende ist es dieser Graubereich und zudem diese alte Gut-Böse-Dichotomie vom guten Koch hier und der bösen Industrie dort, die das Ganze so aufgesetzt wirken lässt. Dabei schwächelt die Doku sogar an dieser Stelle, als zum Beispiel ausgerechnet ein Hersteller von Fertigprodukten für die Gastronomie zu Wort kommt, der früher selbst Koch war.

Sorry, so wirklich überzeugend erscheint mir die ganze Sache nicht, denn Kosten werden überall versucht zu minimieren, ob nun bei Unilever oder im Restaurant zur gutgläubigen Schnecke. „Das Böse“ funktioniert als Konzept halt doch eher in Religionen und weniger im Alltag, auch wenn wir’s gerne so hätten.

Zu guter Letzt sei angemerkt: Wenn die Doku in ihrem letzten Punkt recht hat, also damit, dass das alltägliche Verwenden von Fertigprodukten einen negativen Einfluss auf die Ausbildung von Köchen hat, dann ist das zweifelsohne schlecht. Natürlich sollte es Leute geben, die auch mit der traditionellen Zubereitung bestimmter Speisen Erfahrung haben. Und natürlich gibt es ein Publikum da draußen, das die Unterschiede erkennt und das meinetwegen auch weiter mit Essen versorgt werden soll, bei dem man noch rausschmecken kann, welche Bienenart es nun war, die dem Obst durch seine Weiterverbreitung diesen oder jenen Beigeschmack verpasst hat. Ich bin ein Freund von Kunst und ich mache da für die Kochkunst keine Ausnahme. Selbst die eher abstrakte Weitergabe von Wissen halte ich für einen Wert an sich.

Aber können wir das Ganze dann bitte trennen von der Frage, ob irgendein Mittfünfziger in einem Restaurant ohne entsprechenden Background sich wünschen würde, dass der Koch mit seinem immer für gut befundenen Essen noch etwas mehr Stress hat als ohnehin? Denn das ist es, worauf die Dokumentation am Ende rausläuft, nicht darauf, ob die Küche dort „gut“ oder „schlecht“ ist.

Simon

Simon

Man kann nicht sagen, dass sich das Leben in allen Bereichen verschlechtert hätte. Dass Simons Chef jetzt einer der Zombies war, hatte zum Beispiel einen deutlich entspannteren Arbeitsrhythmus zur Folge. Also ja, Simon ging halt einfach nicht mehr hin, auch aus Sicherheitsgründen.

Dabei hatten sie mit dem Chef wirklich Glück gehabt. Er war nunmal immer ein Arschloch gewesen, bei ihm waren die „psychischen Warnsignale“, wie die WHO sie nannte, einfach zu offensichtlich. Als der Chef an diesem Dienstag die Hand zu einem High-Five erhob, hat ihn Nele aus der Buchhaltung sofort mit einem Tritt in die Weichteile außer Gefecht gesetzt. Die Studienlage zum Schmerzempfinden und zur Persönlichkeitskonsistenz in der „Suchphase“ ist weiterhin Gegenstand der Forschung, aber was auch nicht von der Hand zu weisen ist: Ethik allgemein ist eher so ein mittel beliebtes Instrument während Zombie-Apokalypsen.

Simon und Bianca waren bisher verschont worden. Anfangs lag es einfach daran, dass sie beide unbeliebt waren, aber als nach rund einer Woche erste Warnungen aufkamen und über die neue Krankheit spekuliert wurde, haben sie bewusst Abstand gehalten. Inwzischen teilten sie sich Biancas Wohnung, die war strategisch praktischer gelegen und sie konnten sich bei Bedarf die Verteidigung in Schichten einteilen, auch wenn das bisher nicht nötig war.

Wie ungefähr auch der ganze Rest der Welt hatten die beiden sich unter einer Zombie-Apokalypse etwas wesentlich dramatischeres vorgestellt. Jeder hatte „The walking dead“ auf Netflix gesuchtet und auch wenn man in Deutschland nicht ganz so leicht an Waffen kam wie in den USA, so war spätestens beim endgültigen Ausbruch von KV3000 eindeutig klar, dass man sich mit Waffengewalt gegen bösartige Monster würde verteidigen müssen. Nun waren es aber vor allem Staubsauger, die zum Sinnbild des menschlichen Überlebenskampfes werden sollten.

Noch bevor der Wirkmechanismus des Virus völlig verstanden war, war die Sache mit den Kätzchen klar. Sie waren die Überbringer des ganzen Schlamassels und da waren Staubsauger eben die naheliegende erste Wahl.

„Wir haben kaum was zu essen, wir sollten wirklich so langsam mal raus!“

Da hatte Bianca schon recht. Sie hatten nämlich auch Glück mit ihrem Stadtteil, hier waren die Leute schnell zu Zombies geworden, was bedeutete, dass die meisten nur noch nervten, aber keine große Gefahr mehr darstellten. Der internationale Verbund von Wissenschaftlern, der KV3000 erforschte, war in der Auffassung über die Anpassungsfähigkeit des Erregers über eine erste Welle der Begeisterung schnell zu zweckmäßiger Ernüchterung gekommen. Steve Brendand, 74, Dentalanalytiker und komissarischer Leiter nach mehreren „Ausfällen“ im Gremium, prägte die Nachrichtenplattformen tagelang, indem er folgendes verkündete:

„Ja, das könnte das Ende der Welt sein, aber es ist ein sehr dummes Ende.“

Das freilich war gekürzt. In ganzer Länge lautete sein Statement wie folgt:

„Ob dieses Virus gefährlich ist? O ja, das könnte das Ende der Welt sein. Wenn Sie mich aber fragen, ob das das aufregendste Virus ist, das ich je gesehen habe, oder ob dieser Erreger besonders gut angepasst oder gar vermeintlich intelligent ist … dann muss ich sagen: Nein. Dieses Ende der Welt ist ein sehr dummes Ende der Welt.“

Aber das bezog sich auf das langfristige Überleben des Virus. An Katzen war er faszinierend gut angepasst und griff in völlig unabhängige Körperprozesse ein: Zunächst lagerte sich virale RNA während des Wachstums in den Haaren an. Dann wurden im Gehirn sowohl Areale für den Sexualtrieb als auch für Furcht und Aggression beinahe zufällig aktiviert und zudem stellte ein bislang noch nicht entschlüsselter Vorgang einige Proteine bei der Haarbildung um, so dass sie deutlich robuster wurden, teilweise sogar eine nahezu stachelartige Struktur bekamen.

Mit den bekannten Folgen: Die Katzen suchten körperliche Nähe, stellten hier und da ihre Haare auf und punktierten einander sehr unauffällig. Durch die schiere Menge an Kontakten war die Übertragungsrate dennoch immens hoch und da die Katzen nach bisherigen Erkenntnissen keine weiterreichenden Symptome entwickelten, wäre das „a subbr Sach fir elle gwä“, wie Professor Gerd Schächtele, Chef-Immunologe in der Uni Stuttgart zu sagen pflegte, bevor er und seine Katze … naja, man kann es sich denken …

Denn ja: Dann kam der Mensch. Einige Prozesse funktionierten speziesübergreifend erstaunlich gut, rückblickend betrachtet betrafen zum Beispiel die ersten Beschwerden über die neue Krankheit „spitze Haare“ und speziell in Süddeutschland den erhöhten Rasierklingenverschleiß. Das meiste, was sich im Gehirn abspielen sollte … das wurde dann das eigentliche Problem. Anstatt sich wie die kleinen Kätzchen im wesentlichen etwas „stärker zu sozialisieren“ und ansonsten weitgehend sorgenfrei zu leben, wurden die Menschen auffällig. Ja, ein paar Hormone wurden verstärkt ausgeschüttet, etwa 40% der Erkrankten sollen besagte „Suchphase“ mit erkennbar mehr Emotionen und/oder Sozialkontakten deutlich gezeigt haben. Die Dunkelziffer dürfte weit höher liegen. Eine neurologisch-kulturelle Problematik: Man spricht nicht so gerne nett über Leute, die man aus Notwehr erlegen musste.

Bianca und Simon zogen sich die Handschuhe an, die ihre Hauptverteidigung gegen streunende und krankheitsbedingt aufdringliche Stubentiger waren. Laut einem Noterlass des regierenden Bürgermeisters hätten alle Katzen bereits zum Ende letzten Jahres getötet worden sein, aber in der Praxis hatte das natürlich nicht funktioniert. Zum einen weil die Katzenpopulation dank des Virus einen unerwarteten Sprung nach oben machte, zum anderen, weil natürlich viele Katzenbesitzer nicht wahrhaben wollte, dass ihre Maunzis und Schnurrles auch betroffen waren. Viele Mitglieder jenes empathischen Menschenschlags saßen inzwischen halb tot und sabbernd in ihren Sesseln, während sie gar nicht mehr mitbekommen konnten, wie viele Nachfahren ihrer Katzen sich alleine in ihrem Kühlschrank paarten, wo inzwischen aus dem letzten Wocheneinkauf etwas durchaus interessantes und nahrhaftes gewachsen war.

Das mit dem Hinsiechen war auch das eigentlich fiese, weswegen man jetzt all die Zombie-Vergleiche hatte. Ein leidlich schneller Verfall von komplexeren Hirnfunktionen, der vornehmlich dem Energiesparen diente. Eigentlich nicht sonderlich lustig. Zu grundsätzlicher Nahrungsaufnahme waren die meisten Sterbenden noch monatelang fähig, wobei nach kurzen ersten Versuchen einer Eingliederung das komplette Pflegesystem zusammenbrach.

Wie auch sonst eigentlich alles. Die ersten Tage waren es ein paar Notarzt-Einsätze mehr, dann folgte die „obskure Welle“. Etwa der Krankenwagenfahrer, der während seiner Schicht so schwer erkrankte, dass er an der Klinik als Patient aus dem Auto fiel. Oder die vielen vielen Verkehrsunfälle, die drei abgestürzten Kranfahrer und der Jäger, der noch schoß, aber schon nicht mehr wusste, worauf.

Der erste Weg führte auf den Dachboden. Zwei, drei liebestolle Katzen miauten durch die oberen Stockwerke, zu Gesicht bekommen haben Simon und Bianca sie nicht. Um sie herum zeigten die zahllosen Hinterlassenschaften dennoch eindrucksvoll, welch rasanten kurzzeitigen Aufschwung die Hauskatze kurz vor 2020 hatte.

Die Dachgärten hatten sie katzensicher angelegt. Soweit möglich. In den ersten paar Wochen hatten Bianca und Simon einiges dazulernen müssen über die Sprungkraft der Stubentiger. Es war zwar kein offizieller Fall bekannt, in dem jemand sich über Nahrung angesteckt oder ohne Mensch- oder Katzen-Direktkontakt erkrankt war – allerdings waren schon alleine die sechs Leichen hier im Haus Fälle, die es nie in eine offizielle Statistik schaffen würden. Mal ganz davon abgesehen, dass sich binnen weniger Tage auch die Zahl der verfügbaren Wissenschaftler rasch dezimiert hatte.

Bianca öffnete vorsichtig und nach mehrmaligem Umsehen die Tür zum Garten, der von außen eher nach einem wenig interessanten Verschlag aussah, rückwärtig jedoch Sonnenlicht bekam und trotz der schmalen Zugangsseite nahezu zehn Quadratmeter Pflanzfläche aufwies. Wie sie beim Anlegen ihres Alternativgartens richtig gemutmaßt hatten: Ab einem gewissen Punkt waren neben den Zombies und den Katzen auch andere Überlebende ein Problem geworden. Oder wie Simon es sagte: „Nur weil werktags zwischen 12 und 15 Uhr die Website der Polizei Berlin online ist, bedeutet das nicht, dass eine umfassende Gewährleistung des Rechtsstaates etwas ist, das man einer allzu genauen Prüfung unterziehen sollte!“

Sie krochen beide hinein und schlossen die Tür hinter sich. Zumindest Simon erinnerte sich, wie erstaunt er auf einer ihrer ersten Besorgungstouren durch die verwaisten Nachbarwohnungen war, dass er ausgerechnet in Broccoli-Tims Wohnung einen veritablen Vorrat an Vorhängeschlössern und ähnlichen Sicherheits-Features finden konnte, während besagter Tim ihm hilflos zusehen musste, wie er ihn ausraubte, weil er bereits in Stadium 5 war, was zwar höchst unterschiedlich ausfiel, in seinem Fall aber eindeutig die klassische Handzahn-Variante war: Während das Gehirn versuchte, die Extremitäten zu bewegen, klapperte Tim nur mehr lustlos mit den Zähnen. Es dürften danach noch drei oder vier Tage gewesen sein, länger hat das nach dem (wie erwähnt bescheidenen) Stand der Wissenschaft bisher niemand überlebt, der sich nicht zufällig beim Bemerken seiner Erkrankung in einen Schlafsack aus Teig gewickelt hat. Etwas, das auf erschreckend vielen Verschwörungs-Seiten (zwischen 12 und 15 Uhr) ernsthaft als Empfehlung nachzulesen war.

Viel neues brachte das Kriechen durch den Garten aber leider auch nicht, denn viele der Pflanzen waren allenfalls vor zwei Wochen ausgesät worden. Enttäuscht brach Bianca den Versuch ab und stieß nach dem Aufschließen die Tür mit einem herzhaften Ihr-könnt-mich-alle-mal-Tritt auf und wurde umgehend von einer Katze angefallen, die offensichtlich zwischen den Kuschelkissen der letzten Jahre noch nicht alle Tiger-Instinkte verlernt hatte.

Man spürte die Punktionen wirklich nicht. So stachelig sich die Katze an sich anfühlte, so wenig bedrohlich. Die vielen „Zu Tode gekuschelt“-Headlines vor der merkbaren Ausdünnung bei Boulevard-Journalisten hielten entsprechend viele Server am Laufen, auch jetzt noch, da die Energie nur jenen Knotenpunkten zugesprochen wurde, die entsprechende Nutzerzahlen vorweisen konnten. Ein an sich cleveres Konzept, das bei rückläufiger Stromgewinnung versuchte, den Überlebenden wenigstens etwas Infrastruktur außerhalb der wenigen hermetisch abgeriegelten Sicherheitsbereiche zu gewährleisten. Leider einhergehend mit Nebenwirkungen wie der stetigen Präsenz von dummdreisten Seiten, die entweder die deutsche Kanzlerin bezichtigten, einen geheimen Katzenhasser-Overkill betreiben zu wollen oder mit wissenschaftlich angehauchtem Vokabular den Eindruck zu erwecken versuchten, dass die Juden an allem Schuld seien oder Katzenkot trotz allem noch eine gute Antifaltencreme hergeben würde, wenn man die Haare aussortieren und den Rest gen Andromeda schütteln würde. Ein temporäres Phänomen, denn natürlich waren die Zugriffe auch hier insgesamt rückläufig.

„FUCK!“

„WAS?“
„SIE …“
„WAS?“
„SIE HAT …!“
„WAS?“
„MICH GEKUSCHELT!“

Simon war die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben und Bianca stand verständlicherweise kurz davor, die Nerven völlig zu verlieren. Natürlich gab es hypothetisch auch uninfizierte Katzen, natürlich lag die Ansteckungsgefahr nicht bei glatten 100%, aber ebenso wie nach der Trump-Wahl der IQ-Drop in der amerikanischen Außenpolitik vorhersehbar war, galt Katzenkuscheln inzwischen als sicheres Todesurteil. So sicher, dass #killmewithcats über Wochen ein ernstzunehmender Twitter-Trend war.

„Töte mich.“, schluchzte Bianca umgehend und Simons fehlender Sinn für angemessenen Humor schlug sich umgehend Bahn:
„Sicher, dass Du nicht noch zwei Wochen RTL2 mitnehmen willst, jetzt, wo’s eh egal ist?“

Bianca fing an, unaussprechliche Dinge zu schreien, Verwünschungen auszustoßen und ganz allgemein wenigstens ein bisschen gegen das zu verstoßen, was kurz vor den „Ereignissen“ noch scherzhaft „amerikanische Diplomatie“ genannt wurde.

Auch wenn zwischen den beiden jetzt nicht gerade eine klassische Klischee-Romanze gelaufen war, die Simon sich in Anbetracht des nahenden Weltuntergangs durchaus gewünscht hätte: Ein kleines Bisschen seines Frühstücks kam ihm dennoch hoch, als er (völlig konform mit der derzeit vorherschenden Ethik!) einen zufällig herumliegenden Pflasterstein durch die Teile ihres Schädels schlug, die er für gute Punkte hielt, um Stellen im Gehirn zu treffen, die einem frühzeitigen Ableben zuträglich sein würden.

Glücklicherweise lag er damit trotz all der damit einhergehenden Sauerei nur selten daneben. Das Ende von Biancas Existenz war damit nicht unbedingt komplett schmerzfrei, mit mehreren Wochen RTL2 ohne dabei Chips essen zu können allerdings auch nicht vergleichbar.

Ein Mensch, der fürs Alleinsein gemacht wurde, war Simon trotz aller Streitigkeiten aber eben auch nicht. Sicher: Er hatte jetzt einen eigenen Garten für sich, eine eigene Wohnung und selbst die inzwischen angesammelten Waffen konnten sich sehen lassen. In der Berliner Sperrzone von immerhin knapp 600km² konkurrierte er nun mit kaum mehr als 2.000 anderen Leuten. Man könnte sagen, er hatte es geschafft! Als einer von wenigen! Das wusste Simon und es wäre unfair zu behaupten, dass er keinen Stolz darüber verspürte. Dennoch blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf die Terrasse zu setzen, ohne die Tür hinter sich abzuschließen. Die Sonne ging gerade irgendwo hinter Hochhäusern unter, die er sich nie angesehen hatte, obwohl sie in derselben Stadt standen, in der er sich jahrelang wohlgefühlt hatte.

Er hat sich trotz alledem nicht gewehrt, als der rot-weiß-getigerte Kater von Ilse Helbord aus der Dritten laut miauend auf ihn zugestakst kam und sein zartes und doch irgendwie stacheliges Köpfchen an sein Kinn stieß. Nähe suchend, Liebe suchend, schnurrend.

„Na, Kleiner? Schöne Scheiße hier, wa?“

Ein paar tausend Menschen haben es im Verlauf der nächsten zwölf Jahre geschafft, sich eine neue Existenz in Irland aufzubauen und die Expeditionstrupps, die im Wesentlichen Katzen ausrotten, sind inzwischen auch wieder bis in die Türkei vorgerückt, der Großteil West- und Mitteleuropas ist bereits von Wiederaubau-Truppen besetzt, deren Hauptanliegen Datensicherung und Infrastruktur-Wiederherstellung sind. Wenn man den drei regierungstreuen Radiosendern glauben darf, ist das Meiste durchgestanden und der Menschheit steht ein geschichtlich beispielloser Aufstieg bevor.

Simon hatte in seinen letzten Tagen die rare Berliner Onlinezeit genutzt und viel geschrieben. Dabei hat er einige wohlwollende Posts über eine gewisse Bianca hinterlassen, deren Identität von den nachrückenden Wiederaubau-Truppen erst kürzlich bestätigt werden konnte. An ihrer Leiche konnten keine Spuren von KV3000 festgestellt werden.