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Monat: September 2007

Langer Heimweg

Langer Heimweg

Das Leben kann so schön sein. Das ist es bekanntermaßen nicht immer, aber manche einzelne Tage sorgen dafür, dass man sich einbildet, dass das eigene Leben ein Erfolg war – ganz gleich, wie auch immer man in so einem Falle das Wort Erfolg definiert.

Diesen Abend hatte ich mir mit ein paar meiner besten Freunde vertrieben und wir haben eigentlich nichts gemacht, weswegen der Durchschnittsbürger das zu einem schönen Tag erklären würde. Nein, ich habe an diesem Abend einige sehr tiefgehende Gespräche geführt, und dabei festgestellt, dass einige Leute, die ich bisher nicht zu den intelligentesten gezählt habe, doch einiges auf dem Kasten haben. Vielleicht freute ich mich ja sogar für sie. Ich weiß das nicht mehr so genau zuzuordnen! Es war einfach schön zu sehen, dass nicht alle Leute sich den auch heute noch stark ausgeprägten Konventionen der bürgerlichen Mehrheit beugen wollten und ihnen auf ihrem Wege Paroli boten. Es ist immer schön zu erkennen, dass sich auch andere Leute ihre Freiheit nehmen. Nicht immer bin ich mit ihnen einer Meinung, aber irgendwie bewundere ich doch jeden Ansatz, sich aus dieser so unpersönlichen Umklammerung zu lösen.

Der letzte Bus war lange schon gefahren, als ich beschließe, mich auf den Heimweg zu machen. Keine Chance mehr, mich heute noch mal ernsthaft aufzuraffen! Ich bin tot. Nicht der Drogen wegen – es war ein eher harmloser Abend, der nicht der Gehirnzellen-Vernichtung geopfert worden war.

Ich verabschiede mich von diesen und jenen Leuten, von den einen mit mehr und den anderen mit weniger Lust. Aber gut, eigentlich ist das Leben zu kurz um sich über solche Kleinigkeiten ernsthaft aufzuregen. Ich werfe im Davongehen einen letzten Blick auf Andrés Haus, dem Ort an dem wir den Abend verbracht haben. Jetzt im Halbdunkel könnte es als Spukschloss in drittklassigen Horrorfilmen durchgehen. Störend nur die Tatsache, dass es nicht freisteht, sondern eingebettet ist in eine kleine Vorstadtsiedlung. Ich vermute, dass es noch vor den beiden Weltkriegen erbaut worden war und male mir aus, was für Leute wohl während der Kriegszeit hier gewohnt haben. War dieses Haus vielleicht eine Keimzelle des Widerstandes gewesen? Oder haben sich hier hochrangige Nazis herumgetrieben? Vermutlich war dieses Haus während dieser Jahre aber genauso unbedeutend, wie es heute ist. Ein paar Feste einer einfachen bürgerlichen Familie mögen hier stattgefunden haben, aber mit Sicherheit weder konspirative Treffen noch große Bälle. André bewohnt das Haus mit seiner Familie zusammen, seinen Eltern und seiner Großmutter. Das obere Stockwerk war vor Jahren schon zu seinem Reich erklärt worden, und durch den separaten Aufgang und die üppig begrünte Dachterrasse ist dieses Reich gut geeignet zum entspannen. Ich habe seine Eltern bisher nur einmal gesehen. Ich hatte damals den Eindruck, als seien sie irgendwie während der Zeit der Hippie-Bewegung hängen geblieben. Ich bin mir sicher, dass sie die selben Drogen konsumierten wie ihr Sohn. Vielleicht bauen sie ja auch gemeinsam an. Eigentlich egal, aber der Garten am Südhang wäre sicher nicht ungeeignet dafür.

„Vielleicht sollte ich ihn mal darauf ansprechen…“, denke ich mir so, als ich auf die Hauptstraße zulaufe. Die Schwärze der Nacht um dieses alte Viertel weicht dem schummrig gelb-orangenen Licht der Straßenlaternen. Zu dieser Stunde wirkt das ungewohnt grell, was sich aber auch auf meine sich langsam einschleichende Müdigkeit zurückführen lässt.

Manchmal lasse ich mich dazu verleiten, darüber nachzudenken, was die Menschen, die des Tags über so gestresst durch die Innenstadt eilen zu dieser schönen Tageszeit wohl dort machen, wo ich sie jetzt nicht sehe. Aber ich vermisse sie nicht.

„Wir lassen euch den Tag und nehmen uns die Nacht!“ Ich würde diesen Tausch beizeiten eingehen. Die ganze Hektik des Tages lässt von mir ab, wenn ich zwei Stunden in der Nacht durch die Stadt laufe. Im Gegensatz zum Schulweg oder dem Weg zur Arbeit ist das immer ein sehr bewusstes Laufen. Durch die fremdbestimmte Festlegung des restlichen Lebens auf die Tagseite wirken vertraute Orte in der Dunkelheit oft surreal oder zumindest fremd.

Es dauert etwa drei Minuten, bis mich der erste Wagen überholt. Ein silbergrauer VW Passat. Es ist ein gestresster Geschäftsmann, der gerade die weite Fahrt von Norddeutschland hierher hinter sich gebracht hat, und zu Hause heimlich ins Bett schleichen wird, im Versuch seine Frau nicht aufzuwecken. Natürlich ist sie die ganze Nacht wachgelegen und hat sich geärgert, dass das schon das dritte Mal diese Woche war, und beide wissen sie noch nicht, dass sie in 4 Jahren etwa geschieden sein werden, und dass auch diese Nacht, als er mich auf dem Weg in die Innenstadt hätte sehen können einen kleinen Anteil am Ausgang der Geschichte hat.

Der Bordstein senkt sich beinahe unmerklich, als ich das Friedhofstor passiere. Meistens laufe ich durch den Friedhof, aber an diesem Abend genieße ich die helle Beleuchtung und verwende die Bank vor dem Friedhof nur, um mir noch eine Tüte zu drehen, die mir den Heimweg noch ein wenig versüßen wird. Aus dem Augenwinkel bemerke ich den grün-weißen Wagen, der an mir vorüberfährt, ohne dass die Beamten mich gesehen hätten. Die Bank befindet sich zwar direkt an der Hauptstraße, ist jedoch durch eine Tanne in beinahe totale Finsternis getaucht. Meine Vorliebe für schwarze Kleidung hat mich hier schon manche Male vor einer nächtlichen Kontrolle bewahrt. Wenn ich die Cops herannahen sehe, verweile ich zumeist ein wenig hier im Schatten. Eine alte Angewohnheit, die aus der Zeit herrührte, als ich noch in dem Alter war, in dem die Eltern verständigt werden, wenn die „Kinder“ zu nachtschlafender Zeit auf der Straße aufgegriffen werden.

Aber gut, meine Eltern hatten eigentlich seit jeher eine größere Abneigung gegen Polizisten, die sie spät aus dem Bett holten als gegen lange abendliche Spaziergänge meinerseits.

Die nur sehr vereinzelt auftauchenden Autos stören mich aber nun wirklich nicht beim Rauchen. Einige tiefe Züge später kriecht die Entspannung durch alle meine Glieder. Der weitere Verlauf der Straße ist geprägt durch fünfstöckige Mehrfamilenhäuser. Die Gitter vor den Schaufenstern verraten mir genug über die Angst der Ladenbesitzer in dieser auf Stammkunden angewiesenen Gegend. Die Jalousien einiger kleiner Geschäfte sind mit Tags versehen. Nicht gerade sehr ansehnlich. Ein paar Prolls nutzen die Tageszeit, um mit ihren getunten VW’s ein Rennen zu fahren. Als die Ampel auf Kirschgrün schaltet, rasen sie an mir vorbei und der Luftstoß haucht mir ein wenig mehr Leben ein. Ich denke unwillkürlich an die Cops, auf die sie zweifelsohne treffen werden. Murphys Law.

Nun ist es an der Zeit, die Straßenseite zu wechseln, um noch einen nächtlichen Zwischenbesuch bei Matze zu machen. Ich bin froh, dass sie die Tanke inzwischen auch nachts öffnen. Hier in der Ecke der Stadt ist so wenig los, dass ich mich des öfteren frage, ob sich das lohnt. Matze ist sicher froh. Noch zudem haben wir beide kriminelle Energie genug, um bei unseren Einkäufen beide zu profitieren. Er hat mir mal gezeigt, wie leicht sich das System so einer Tankstelle umgehen lässt. Um fünf Bier, zwei Schachteln Zigaretten und Zehn Euro reicher verlasse ich nach einer halben Stunde das Gelände. Danke Shell!

Die nächsten vier Häuserblocks ziehen dann eher verschwommen an mir vorbei. Ich realisiere kaum etwas, was sich regt. Hier und da ein paar durch die Dunkelheit hastende Personen, vielleicht ein, zwei Spanner hinter irgendwelchen Bäumen. Die Nacht, sie senkt ihre Schatten, und so kommt hervor, wer das Licht scheut.

Als der Wagen anhält, entsorge ich mein restliches Gras vorsorglich im Gebüsch.

„Allgemeine Personenkontrolle! Haben sie einen Ausweis dabei?“

„Nein, den hab ich meinem Schwager mütterlicherseits geliehen, der kann sonst nicht nach England einreisen! Natürlich!“

„Sehr komisch! Her damit!“

Es ist unglaublich, wie unübersichtlich mein aufgeräumter Geldbeutel mir vorkommt. Zwei ganze Minuten dauerte es, bis ich eines von zwei Dokumenten als Personalausweis identifizieren kann. Noch bevor ich ihn aushändige frage ich gespielt beiläufig: „Ach übrigens: Haben sie denn ihre Dienstnummern dabei?“

„Des goaht dich an Scheißdreck an! Her mit dem Ausweis!“

„Das wiederrum geht sie einen Scheißdreck an. Gleichwohl weise ich sie darauf hin, dass ich sie lediglich rezitiert habe… und ihnen meinen Ausweis nicht aushändigen werde, solange ich ihre Dienstnummern nicht in Erfahrung gebracht habe.“

Ein riskanter Versuch. Nachts mutterseelenalleine mit zwei ungemütlichen Gesetzeshütern – das kann in die Hose gehen. Aber was Recht ist, ist Recht, auch während der Nachtschicht. Es kommt wie es kommen musste: Nackt bis auf die Unterhose hocke ich eine Dreiviertelstunde später in einem grün-weißen Wagen unter der Androhung körperlicher Gewalt. Mein Ass im Ärmel ist die psychologische Verunsicherung, der die beiden etwas einfältig wirkenden Beamten nichts entgegenzusetzen haben. Nicht nur, dass ich drohe, das publik zu machen: Ich behaupte auch unablässig, Drogen zu besitzen, dass sie sie nur so nie finden würden. Mir ist längst klar, dass diese beiden Löffel das irgendwann für einen schlechten Scherz halten würden.

Es muss gegen drei Uhr dreißig etwa gewesen sein, als sie mich laufen ließen und sich wahrscheinlich aufmachten, einen Ausländer zu belästigen, der der deutschen Sprache nicht so mächtig ist. Als der Wagen um die Ecke biegt, werfe ich mich in die Büsche, und hole meine Drogen …

Zwei Bier später stehe ich auf der Brücke. Der Vorfall mit der Polizei hat mich wieder ein bisschen wachgerüttelt, und ich habe eigentlich zu viel Energie um hier zu verweilen. Dennoch ist der Fluß wie viele andere Plätze nachts am schönsten. Die Lampen, die die Wege zu beiden Seiten säumen, sorgen für ständig variierende Reflektionen auf der Wasseroberfläche. 200 Meter entfernt flackert eine dieser Lampen. Gemächlich schiebt sich ein Lastenkahn lautlos durch die Wassermassen und hinterlässt symmetrische Verwirbelungen, die sich nach Kollision mit dem Ufer selbst kreuzen. Ein wenig sehnsüchtig starre ich stromabwärts, ungefähr dorthin, wo sich der Fluss 574 Kilometer weiter mit dem Meer vereinigt. Jedes Mal, wenn ich hier eine Weile innehalte, tragen mich meine Füße die nächste Zeit selbstständig, während ich in Gedanken immer noch am Wasser bin. Das hilft mir dann, die Trostlosigkeit der Industriegebiete zu ertragen, die sich am Fluß entlangschlängeln wie Parasiten auf den Schuppen schillernder Tiefseefische.

Doch ehe ich mich versehe, wuchern überall wieder Leuchtreklame-Schilder und die Straße erwacht zu neuem Leben. Hier an der U-Bahn-Haltestelle könnte ich auf den ersten Zug warten, wie einige der verfrorenen Gestalten, die die Bahnsteige säumen. Doch von hier sind es noch fünfzehn Minuten Weg, und die Bahn erwarte ich ebenso erst zu ungefähr dieser Zeit hier an der Haltestelle. Ein paar Obdachlose erfreuen sich an ein paar Euro, die ich ihnen zugestehe. Ich hätte ihnen gleich mein letztes Bier geben können, das weiß ich auch. Als sie am nächsten Morgen an der Imbisstube im Bahnhofsgebäude eine Flasche Wodka dafür erstehen, wissen sie freilich nicht mal mehr, wie ich aussehe, aber diese Gleichgültigkeit teile ich mit ihnen. Auch ich würde am nächsten Morgen nicht mehr wissen, wem genau ich nun das Geld gegeben hatte. Gerade an der Kirche vorbei klingelt mein Handy. Dass es 5 Uhr ist, fällt mir jetzt erst wirklich auf. Tamara! Ich habe keine Ahnung, was sie will, und – zugegegeben – ein wenig sauer bin ich, dass sie mich um die Zeit anruft. Noch fünf Minuten Fußweg.

Ich hab mich in letzter Zeit häufig mit ihr ausgequatscht, und ich habe kein Interesse daran, das jetzt zu Hause zu tun. Ich lasse mich in unserem kleinen Park ins Gras fallen, ungeachtet der Tatsache, dass es nass und kalt ist. Sie entschuldigt sich für den Anruf, erzählt mir von einigen Frechheiten, die ihr Freund sich mal wieder geleistet hatte und sie betont, wie schön sie es findet, dass ich selbst zu dieser Zeit noch ein offenes Ohr für sie hätte und dann entschuldigt sie sich wieder. Das ganze wiederholte sich ein paar Mal. Nicht, dass es mir egal wäre, was sie erzählt, aber das ganze Gezeter mit ihrem Freund hielt ich nun schon ein paar Monate aus und überhaupt bin ich in Gedanken am Fluß und bei den Cops.

Ich trinke mein letztes Bier und zünde mir eine Zigarette an, während sie am anderen Ende heult, wie ungerecht die Welt sei und die erste U-Bahn an mir vorbeifährt. Diesmal versuche ich gar nicht, sie von einer Trennung zu überzeugen. Dazu bin ich zu müde. Mir ist ohnehin klar, dass es ganz egal ist, was ich sagen würde. Sonst wäre ich dem auch nicht so gleichgültig gegenüber. Sie will eine Stimme hören, die ihr bestätigt, dass sie nicht alleine schuld ist an all dem Ärger, der ihr zur Zeit widerfährt, und das ist in dem Fall meine.

Nachdem ich ausgetrunken habe, habe ich auch ein ziemlich dringendes Bedürfnis, nun doch noch irgendwann meine eigenen vier Wände zu erreichen und mich schlafen zu legen. Ich beende das Gespräch eher diplomatisch nüchtern als wirklich freundschaftlich. Dann laufe ich zügigen Schrittes die verbleibenden 300 Meter und schließe die Haustür auf.

Als ich die nassen Klamotten von mir pelle, blendet mich einer der ersten Sonnenstrahlen des neu erwachenden Tages. Ich ziehe die Vorhänge zu und falle in mein kühles Bett. Als ich mir die Decke bis über die Schultern ziehe, streift mich dieses wohlige Gefühl, nach ewiger Verzögerung endlich Ruhe zu finden. Ich denke über den Tag, insbesondere aber die Nacht nach, bevor ich einschlafe. Fünfeinhalb Stunden Heimweg.

Um halb elf ruft Tamara an. Sie entschuldigt sich.