Müsli
Als ich wieder mal an einem kalten Morgen der letzten Woche müdigkeitsgetrübt über meiner Müslischüssel hing, überkam mich auf einmal ein seltsames Gefühl. Nicht, dass es mir morgens um sieben nicht in der Regel so geht, dass man das getrost als normalen Zustand abtun könnte, aber es war ein wenig anders dieses Mal. Ich mache mir mindestens einmal am Tag Gedanken über dieses absurde Leben das wir führen, aber ausgerechnet zur Frühstückszeit? Wer hat den um diese Zeit einen klaren Kopf? Ich jedenfalls nicht.
Dieses komische Gefühl versuchte ich nun ein wenig zu spezifizieren. Ging es mir eigentlich gerade körperlich nicht gut, oder versumpfte meine Psyche noch in den zugegebenermaßen etwas seltsamen Ausuferungen des letzten Abends auf die ich ganz bewusst nicht näher eingehen werde. Das alleine bereitete mir schon dermaßen Kopfzerbrechen, dass ich ernsthaft damit beschäftigt war, den Weg des Löffels von der Schüssel bis zu meinem Mund zu überprüfen. Natürlich nur um eine eher unangenehme Kollision mit meinem Auge zu vermeiden. Abgesehen davon hätte dieser Löffel es auch durchaus fertig bringen können, mich beidäugig zu treffen. Das würde meine Probleme komplizieren. Denn: Wer blind ist, weiß vielleicht, wie man dann sein Müsli isst, ich selbst stellte es mir in diesem seltsamen Moment so schwierig vor wie die außerplanmäßige Landung einer Boing 747 in einem vereisten Hinterhof. Denn wenn sich ein Mensch erst mal daran gewöhnt hat, dass seine Augen bei allen Tätigkeiten folgen und den komplizierten Vorgängen so eine gewisse Sicherheit verleihen, dann kann ein Ausfall derselben durchaus verheerende Folgen haben. So ist der Vergleich mit dem Flugzeug gar nicht soweit hergeholt. Schließlich verlässt sich so ein Pilot jahraus jahrein auf seine automatischen Systeme, die ihm das Starten, Fliegen und nicht zuletzt das Landen nicht nur erleichtern sondern heutzutage beinahe schon abnehmen. Natürlich war das mit dem Hinterhof eine zusätzliche Überzeichnung dieser absurden Vorstellung. Man kann so eine Boing nie in einem Hinterhof landen. Das sage ich besonders für alle Piloten, die mich in Zukunft irgendwohin fliegen. Es lohnt den Versuch nicht! Das sind so einfache physikalische Tatsachen, die sogar ein Laie wie ich verstehen kann. Wenn ich mir nur vorstelle, wie der Hinterhof nach so einem Versuch aussehen mag. Wahrscheinlich so ähnlich wie das letzte Hochhaus, in dem ein Flugzeug gelandet ist.
Nein, zurück: Das mit den Augen wäre wahrlich ungünstig. Ist es nicht erschreckend, dass der einzige Versuch der Natur, unsere Augen vor so etwas zu schützen, ist sie zu schließen. Der Versuch, längerfristige Einschränkung durch eine kurzfristige zu vermeiden. Das Unheil abzuwenden erforderte also meine ganze Konzentration. Zugegeben, sonderlich viel war das in diesem Moment nicht.
Ich stellte aber mit der stetig zunehmenden Routine fest, dass es so kompliziert gar nicht war. Das ist wohl auch so eine Sache, die man nicht verlernt. So etwa wie das Autofahren vielleicht. Wobei?
Nein! Ich wollte ja eigentlich nicht auf den gestrigen Abend eingehen …
Hat irgendein Mensch in dieser Welt schon mal versucht, einige Jahre auf das Essen mit Besteck zu verzichten? Bewusst? Was war das Ergebnis? Kann man es verlernen? Und was zur Hölle mache ich eines fernen Tages, wenn ich dann unter Parkinson leide? Parkinson und blind: Ich würde grausamst verhungern. Nehme ich mal stark an. Aber waren das wirklich die Befürchtungen, die mich zu Beginn meines Frühstücks so erschauern ließen? Ich beginne, mir die wirren Gedanken zu vertreiben, indem ich die Zufuhr zu meinem Mund durch spontane Rosinenbombenabwürfe vornehme, die die Nussatolle erzittern lassen. Ich verfolge die weißen Wogen eine gewisse Zeit, und das scheint meinem Gehirn erstaunlicherweise sehr gut zu bekommen.
Mir kehrt nämlich allmählich ins Gedächtnis zurück, dass mein Mitbewohner mich gestern Abend gewarnt hat, dass die Milch im Kühlschrank schlecht sei.
Von da an plagten mich dann weniger psychische denn physische Probleme …