Wespen
Hätte man mir als Kind erzählt, dass ich mir mit 22 Jahren mal Wespen aufs Brot schmiere, hätte ich mir zum entsprechenden Geburtstag wohl irgendeine Art von Schutzausrüstung gewünscht. Da ich es nicht vorher wusste, tat ich es ohne Schutzausrüstung. Aber ich tat es.
Wespen – nicht gerade die Liebe meines Lebens. Während ich zu den meisten Insekten und vor allem Spinnentieren eine ganz annehmbare Beziehung im Rahmen kindlichen Entdeckerdrangs habe aufbauen können, ist mir das bei den Tieren mit schmerzhaften Stichen immer schwergefallen. Weil es weh tat natürlich.
Ich bin lange Zeit verschont geblieben von Wespen- und Bienenstichen, selbst den gleichnamigen Kuchen hab ich erst spät kennengelernt. Im Grunde hatte ich einen gesunden Respekt vor den Tieren, ansonsten war ich aber belesen genug, um nicht grundlos in Panik zu verfallen. Während mein Bruder bei jeder Begegnung mit schwarz-gelbem Flügelgetier panisch brüllend Reißaus genommen hat, habe ich versucht, all den Tipps zu folgen, die zusammengefasst wie folgt lauten:
„Macht den Tieren keine Angst, sie stechen nur, wenn sie sich bedroht fühlen!“
Das erste Mal, dass ich Wespen offensichtlich bedroht habe, war eher unabsichtlich. Eigentlich wollte ich nur bei einem Versteckspiel im Wald gewinnen und duckte mich hinter einem Holzstapel. Dort hielt sich allerdings auch ein Wespennest versteckt und kaum dass ich aus Versehen draufgetreten bin, haben die Viecher sich – sicher zu Recht, mein Fuß hat da wahrscheinlich einiges an Verwüstung angerichtet – enorm bedroht gefühlt. Mit schnellem Rennen und Abwischen der streitlustigen Biester habe ich die Zahl der Stiche auf sieben beschränken können. Beim Verstecken hatte ich natürlich dennoch verloren. Nicht umsonst sind Kreischen, Schreien und wild mit den Armen fuchteln in keiner Verhaltenstipps-Sammlung zu Versteckspielen aufgezählt.
Nach der ersten Panik war eigentlich alles halb so wild, ich hab mich beim Arzt bereits erkundigt, wo denn so der Rekord liegen würde. Nicht, dass ich vorhatte, dem Nest nochmal einen Besuch abzustatten, aber versehentlich einen Eintrag ins Guiness-Buch zu verpassen, wäre für mich als Kind undenkbar gewesen. Dummerweise lag der Rekord schon dort im Waldheim bei über 30 Stichen, was mich trauriger machte als die Tatsache, dass ich gefühlt schon jetzt übersäht war mit juckenden und schmerzenden Pusteln. Denn jetzt waren diese auch noch umsonst und ungeeignet zum Angeben.
Nach diesem Erlebnis hatte ich dann Panik. Ich hätte das alles hinter mir lassen können und bei einzelnen Wespen fortan lässig sagen können:
„Pah, hol‘ erst mal mindestens sieben Kumpels, sonst könnt ihr mir gar nix!“
Dummerweise erzählte mir mein Arzt etwas anderes. Er wies darauf hin, dass solch eine große Erstdosis eventuell dafür sorgen könnte, dass ich künftig allergisch auf das Wespengift reagiere.
Die daraufhin bei mir einsetzende Panik währte ein paar Wochen, irgendwann wurde ich dann gestochen, starb nicht, und alles war wie immer. Jahrelang.
Dann kam der Sommer 2003. Mich und einige andere hat dieser Sommer viel über Wespen gelehrt. Im August stand wie jedes Jahr die große Kinderfreizeit des Kreisjugendring Rems-Murr im Rottal an. Zu den 80 Kindern und den 20 Betreuern – zu denen auch ich zählte – kamen in diesem denkwürdigen Jahr ein paar tausend Wespen hinzu. Das Gelände war natürlich ohnehin von vielen Insekten bevölkert, 2003 aber kamen wir an und zählten bereits am ersten Tag zehn Wespennester und – besonders erbaulich – ein Hornissennest. Da wir alle dem Gedanken des Naturschutzes anhingen, war an eine Vernichtung nicht zu denken, in Anbetracht der Lage wurde die Feuerwehr hinzugezogen, die sich aber schon aus Zeitgründen nur um ein besonders gefährlich gelegenes Nest kümmern konnte.
Als endlich auch die Kinder zu uns stießen, war das Geschrei selbstverständlich groß. Die Wespen waren überall, es dauerte keine Stunde, bis die ersten tränenden Gesichter uns von schmerzhaften Stichen berichteten. Wir hatten während der Vorbereitungszeit die Lagerapotheke extra noch mit Kühlpacks, schmerzlinderndem Gel, Eis und was weiß ich allem ausgestattet, der Ansturm war aber dennoch jenseits von Gut und Böse.
Wir stellten mit Erleichterung fest, dass keines der Kinder allergisch war und so versuchten wir, die Freizeit ungeachtet der vielen uneingeladenen Insekten fortzuführen. Der erste Tag gestaltete sich extrem schwer. Mir in Erinnerung geblieben ist der kleine Paul, der sein komplettes T-Shirt nassgeheult hatte, als er vor mir stand und über unmenschliche Schmerzen jammerte, die erst nach einer halben Stunde guten Zuredens, viel Eis, viel Gel und irgendwelchen Placebo-Schmerzmitteln ein wenig nachlassen wollten.
Ich habe noch an diesem Nachmittag begonnen, die Wespenstiche zu zählen.
Die größte Herausforderung war ohne jede Frage das Frühstück am nächsten Morgen. In Anbetracht der fliegenden Übermacht gab es keinen Weg, die Sechsbeiner von unserem Essen fernzuhalten. Warf man einen Blick in die Schüsselchen mit Erdbeermarmelade, so sah man zwei Farben: Schwarz und Gelb.
Und so kam es, dass wir anfingen, uns Wespen aufs Brot zu schmieren. Behutsam löffelte man sie mit der Marmelade aus der Schüssel und drängte sie auf dem Brot langsam zur Seite. So panisch wir auch in Anbetracht der Gefahr waren, die von verschluckten Wespen ausging, wurde bereits an diesem Morgen deutlich, dass wir mit den Tierchen irgendwie leben konnten. Man biss vorsichtiger vom Brot ab als sonst, man wollte die Wespen auf dem anderen Ende der Scheibe ja nicht stören – aber man aß.
Meine Strichliste, naheliegenderweise „Stichliste“ genannt, wuchs und wuchs. Zum Ende der Freizeit sollten es über 400 dokumentierte Auseinandersetzungen zwischen Mensch und Wespe sein. Und jeder einzelne war normaler als der zuvor. Obwohl manche Kinder sich geradezu zu Insektenmagneten entwickelten, traf es ausgerechnet einen Mitbetreuer besonders schwer, da er sich auf den ungleichen Kampf mit einer Hornisse einließ, den selbige mit einem Stich in seine Unterlippe schmerzhaft beendete. Seine kurzzeitige Einlieferung ins Krankenhaus war allerdings mehr dem Schock als dem Gift geschuldet und sollte ein Einzelfall bleiben.
Im Verlauf der 10 Tage wuchs unsere Toleranz gegenüber den aufdringlichen Wespen immer mehr, bald beobachteten ganze Gruppen von Kindern und Betreuern fasziniert, wie sich die possierlichen Tierchen damit abmühten, aus unserem zum Abendessen aufgetischten Schinken viel zu große Stücke heraussäbelten und dann beinahe flugunfähig durch die Beladung über den Tisch zu eiern. Am letzten Tag stand Paul wieder vor mir, er berichtete von einem neuen Wespenstich – für meine Liste. Ob er etwas Eis haben möchte, hab ich ihn gefragt. Er schüttelte gelassen den Kopf und meinte überheblich: „Nö!“
Im Durchschnitt wurde jeder von uns während der Freizeit fünfmal von einer Wespe gestochen. Die Rekordhalter hatten mehr als 20 Stiche zu bieten, nur ein paar Wenige blieben ganz verschont.
Ich selbst habe in diesem Sommer nach jahrelanger Pause auch drei Stiche abbekommen. An einen erinnere ich mich besonders gut.
Ich lag mit einer Betreuerin zusammen als Aufpasser unten am Ufer der Rot, um das Baden diverser Kinder zu überwachen. Die jedoch waren überwiegend brav, so unterhielten wir uns entspannt. Thema war mein in dieser Freizeit etwas außer Kontrolle geratenes Gefühlsleben, was eine andere Teamerin betraf. Als ich unachtsam meine Beine zusammenschlug, nötigte ich damit wohl eine Wespe zur Notwehr. Nach dem erschreckten Herumfahren entdeckte ich das arme Tier, wie es zappelnd an meinem Bein hing und ihren Stachel nicht aus meinem Fleisch bekam. Obwohl der Stich schmerzte, tat mir dieses kleine Insekt derart leid, dass ich es nicht etwa an Ort und Stelle erschlagen habe, sondern es mit ein paar kleinen Handgriffen aus seiner misslichen Lage befreit habe.
Die Stichliste müsste noch heute in irgendeinem Regal bei mir verstauben, als Erinnerung an diese zwei Wochen vor vielen Jahren. Als irgendwie schöne Erinnerung allerdings.