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Monat: September 2004

Sonntag

Sonntag

Es war an einem Winternachmittag so gegen 15 Uhr. Sonntag.

Ich schlenderte ein wenig durch die Altstadt und mutete es mir zu, die Schaufenster der Konsumtempel zu durchforsten nach Sachen, die ich mir nicht leisten konnte. Nicht, dass ich ein schlechtes Einkommen hätte, aber Abende wie der gestrige sorgen dann dafür, dass das auch komplett raus geht. Es war einer dieser schönen kalten aber klaren Tage, wie sie der Januar leider viel zu selten hervorbringt. Ich geisterte irgendwie in Gedanken versunken durch die Straßen, besichtigte hier ein paar Schuhe, die ich nicht zahlen konnte oder Werbung für die neuen Jahreskarten unseres ortsansässigen Verkehrsunternehmens. Ich musste daran denken, dass meine Karte mich nur ein paar Cent gekostet hat. Das sind im Übrigen Anwendungsgebiete, die den Kauf eines mittelmäßigen Farbdruckers sehr schnell lohnend machen. Aber das nur nebenbei.

Ich atmete zwischen zwei Zigaretten die frische Luft und jeder Atemzug schmerzte ein wenig. Das lag wesentlich mehr an der Kälte der Luft als an meinen Raucherlungen. Minus fünf Grad zeigte das Thermometer am Marktplatz. In diesen Minuten realisierte ich in keinster Weise die Leute, die relativ zahlreich für die Tageszeit durch die Stadt irrten. Vielleicht kam ein Großteil von ihnen ja genauso von irgendeinem Bekannten, der gestern zu einer Party geladen hat. Schwer vorstellbar. Ich hatte das Gefühl, mein Leben zu genießen, jede Sekunde mehr als die vorangegangene. Als mein CD-Player Time von Pink Floyd anspielte, drückte ich den Track weg. Keine depressiven Gedanken! Nicht heute! Die Glocken in meinen Ohren verstummten gerade, als die Marienkirche ihre stündliche Lobpreisung des Herrn begann. Frieden ist nirgendwo.

Als sie auf mich zukam, hing ich noch dem Gedanken nach, im Laufe des Tages meine Wäsche zu waschen und ja nicht zu vergessen, den Wecker zu stellen. Die Nacht würde kurz werden. Wie immer von Sonntag auf Montag. Es war Schnee angekündigt.

Sie musste mich zweimal ansprechen, ehe ich begriff, dass sie es tat. Ich griff aus Reflex nach den Zigaretten in meiner Hosentasche und begann mich zu fragen, wo ich denn jetzt schon wieder mein Feuerzeug versteckt hatte.

„Hey du!“ meinte sie. Sie hatte schulterlanges schwarzes Haar und sah irgendwie interessant aus. Wenn man das so sagen kann. Mein Gehirn suchte nach Schubladen, in die ich diese Anmache einordnen kann. Zigaretten? Marktforschung? Die Zeugen Jehovas? Ich war zu langsam.

„Kommste mal kurz mit?“

„Wohin?“

„Wie heißt du denn?“

„Und du?“

„Ann-Kathrin! Was is jetzt?“

Sie war etwas jünger als ich, achtzehn vielleicht. Irgendwie schien sie verdammt gute Laune zu haben. Vielleicht bin ich ja deshalb mitgegangen.

„Ich hab da ’n Problem mit meinem Einkauf.“

„Einkauf? Am Sonntag?“

„Das isses ja! Weißt du, wo die nächste Tanke is?“

OK, was hatte ich auch erwartet?

„Da musste da hinten links, dann die Straße runter bis zu, warte mal…, nee, am kürzesten isses eigentlich… Weißt du was, ich komm kurz mit, so weit isses wirklich nicht. Wo musst’n danach hin?“

Wenn ich heute darüber nachdenke, ob es irgendeinen Grund gab, weswegen ich das gefragt habe, dann muss ich verneinen. Das spielte aber zunächst auch überhaupt keine Rolle. Sie antwortete nämlich nicht.

„Wo kommste jewesen so spät in der Früh?“

Dieser Satz überraschte mich dann doch. Ich selber hatte ihn mir angewöhnt, zwar nicht bewusst und freiwillig, aber so ist das nun mal mit Angewohnheiten. Diesen Spiegel vorgehalten zu bekommen war nicht schlimm, aber ich hatte das Gefühl, dass ich diese Begegnung so schnell nicht vergessen können würde. Diesen Gedanken zersprengend suchte ich nach irgendwelchen Anhaltspunkten an ihr, die mir mehr über sie verraten könnten, als sie freiwillig von sich preiszugeben gedenkt. Klamotten, Sprechweise, Aussehen allgemein, Schmuck… seltsam, aber nett.

„Hey, weißt’s nicht mehr, oder willstes nicht verraten?“

„Ach so, sorry! Von ’nem Kumpel. Party und so…“

“Und? Gut?”

“Ging so, war ’n paar komische Gestalten am Start, aber nett war’s schon! Äh, wir müssen da auf die andere Seite!“

Die Banalitäten, die ich ihr über den letzten Abend erzählte, sind die Wiederholung nicht wert. Die illuminierte blaue Raute vorne auf der rechten Seite zeigte uns an, dass die Tanke tatsächlich noch dort stand, wo ich sie vermutet hatte. Ich war seit Jahren nicht mehr hier gewesen.

„Nu findste’s wohl alleine, oder?“ grinste ich sie an.

„Nee!“

Dieser Tonfall gefiel mir nicht wirklich. Zumal sie mein Grinsen nicht erwiderte, sondern ziemlich genervt einen Zahn zulegte.

„Hallo? Was hab ich jetzt verbrochen?“

Ich beschleunigte meinen Schritt auch, und sah sie fragend von der Seite an. Sie stoppte erst direkt vor den Zapfsäulen und meinte dann:

„Sorry, war nicht so gemeint! Willst auch noch ’n Bier?“

„Um die Uhrzeit?“

„Is doch egal. Kennste irgend ’nen Platz, wo wir gemütlich trinken können?“

„Du, eigentlich hatte ich vor, heimzugehen…“

„Na komm!“

Eigentlich halte ich es nicht gerade für sinnvoll, mittags um drei schon mit Saufen anzufangen, aber ich kann nicht verleugnen, dass ich durchaus Interesse an einem weiterführenden Gespräch hatte. So oft wird man nun wirklich nicht am helllichten Tag von einem Mädel zur Tanke abgeschleppt und auf ein Bier eingeladen. Also gut. Wir gingen rein, sie nahm gleich zwei Sixer Zäpfle mit und sah mich fragend an als wir wieder draußen standen.

„Wohin?“

„Also wenn Sommer wäre, würde ich den Park bevorzugen, aber jetzt…?“

„Hast du ’ne Jacke an oder sieht das nur so aus?“ fragte sie.

„OK, da lang!“

Zwei alte Frauen schauten uns verständnislos an, wie wir zwei da mit zwei Sixern durch die Stadt schlenderten. Im Park angekommen fläzten wir uns ins Gras, nachdem wir uns vergewissert hatten, dass es trotz der Kälte nicht nass war.

„Auf den schönen Tag!“

„So sei es!“

Nach dem zweiten Bier beschlossen wir, es uns endgültig bequem zu machen, und so lehnte ich mich an die Trauerweide hinter mir und hielt sie im Arm. Ann-Kathrin war hergekommen zu einem kleinen Punk-Konzert am Abend. Ziemlich weite Anreise für eine eher minder begabte Band, wie sie selbst zugab. Ich hatte mir ebenfalls schon überlegt gehabt, hinzugehen, aber aus Mangel an wirklichem Interesse habe ich den Plan vor etwa zwei Wochen wieder verworfen.

„Da läuft noch Musik!“ meinte sie und griff nach meinen Kopfhörern.

Shit, eine halbe Stunde Batterieverschwendung! Ich weiß noch nicht mal, wovon ich die nächsten bezahlen soll…

„Geil, lass mich raten, personenbezogen?“

Ich hörte kurz rein. Launische Shuffle-Funktionen. Eine Geisel der Menschheit, die noch nicht auf Windows angewiesen ist – war klar: „Wish you were here”!

Die Frage danach ist eine von der Sorte, die ich hasse. Zumindest in solchen Situationen. Das ist die Light-Version dieser „Hast du eine Freundin“-Scheiße. Warum ich diese Frage so bescheuert finde? Nun, antwortet man mit „nein“, dann kann man sich sicher sein, dass darauf die Frage „Warum?“ folgt. Selbstverständlich gibt es da ebenso Abwandlungen, aber der Sinn bleibt stets der gleiche. Dann ist man – sofern man das Gespräch nicht einfach abwürgen und ein langes Schweigen provozieren will – gezwungen, alte Beziehungen wieder aufzufrischen indem man davon erzählt, oder aktive Selbstreflexion vor fremdem Publikum betreiben, weswegen man solo ist.

Antwortet man dagegen mit „ja“, dann kann man sich sicher sein, dass der Gegenüber noch schneller das Interesse verliert als es bei dem ewigen „Nein-Gespräch“ der Fall wäre.

Die Wahrscheinlichkeit dem Gegenüber nach dieser Frage noch so sympathisch zu sein wie davor würde ich sehr gering einschätzen. Das ist immer die selbe Problematik: Der einzige Zweck, weswegen sich die Menschen heutzutage unterhalten, scheint der zu sein, potentielle zukünftige Beziehungschancen auszuloten. Egal, ob bewusst oder unbewusst. Ich kann nur sagen, dass diese Erkenntnis das Leben nicht wirklich leichter macht.

„Nicht mehr!“ versuchte ich halbwegs diplomatisch zu antworten.

„Geht das? Lieder erinnern mich immer ewig an Leute…“

Mir ging es natürlich genauso, aber ich hatte nicht die geringste Lust, mein Leben vor ihr auszubreiten. Nach ein paar Bier machte sich bei uns beiden die Müdigkeit breit. Aber ich hatte sie definitiv unterschätzt. Während es mir so langsam unangenehm kalt wurde, und ich feststellte, dass ein Baum nie einen Sessel ersetzen kann, fragte sie, ob ich gelegentlich auch mal rauche.

„Nicht wirklich…“ antwortete ich, „ich hab eigentlich damit aufgehört. Aber… na ja, nicht wirklich! Selten!“

Als sie sich aufrichtete spürte ich den Baum noch mehr in meinem Rücken und mich durchschoss spontan die Befürchtung, dass ich inzwischen einfach alt geworden war. Aus ihrer Tasche zauberte sie eine Schachtel Zigaretten und holte ein sauber holländisch gedrehtes Tütchen hervor.

„Ich denke, dass du dann nichts dagegen hast…“

„Nein, Quatsch! Mach an!“

Mein Rauschzustand war bisher recht harmlos im Vergleich zum gestrigen Abend. Aber natürlich ließ ich mich überreden, dieses „super Gras“ auch mal zu versuchen. Nun, es war wirklich schon eine Weile hergewesen, dass ich das letzte Mal gekifft habe, aber es stellte sich ziemlich genau die Wirkung ein, die ich erwartet hatte. Meine Gedanken verloren sich langsam und ich war so zufrieden mit diesem Tag. Ich glaube, ich hätte in diesem Moment sterben können und es hätte mich nicht interessiert. Wir breiteten uns beide auf dem Rasen aus, genossen unseren immer intensiver werdenden Rausch und freuten uns unseres Lebens. Langsam stellte sich auch der Schnee ein, den sie angekündigt hatten. Wir starrten breit wie Harry in den Himmel, dessen zunehmende schwere Nachtschwärze ein kontrastreiches Bild mit den zahlreich tanzenden Schneeflocken ergab. Es wurde von Minute zu Minute kälter und windiger und so schmiegten wir uns aneinander. Wir trotzten dem Wetter in innigster Umarmung und die Blicke der nur vereinzelt auftauchenden Fußgänger drangen nicht bis zu uns durch.

Wir kannten uns nicht. Ich nehme an, dass wir uns auch gar nicht kennen wollten. Es reichte uns in diesem Moment das gemeinsame Erleben. Ich weiß nicht, weswegen ich mich so schnell zu ihr hingezogen fühlte, aber es war so wie es war.

Wie lange wir uns die Zeit so im Park vertrieben weiß ich jetzt im Nachhinein nicht wirklich einzuschätzen. Vielleicht war es eine Stunde, vielleicht auch zwei. Die Zeit verging zu schnell. Leider zollte der Bierkonsum so langsam seinen Tribut, und unsere traute Zweisamkeit wurde des öfteren von einer Pinkelpause unterbrochen. Als sie sich das dritte Mal – ja, ich nehme an, dass es das dritte Mal war – in die Büsche verzog, schenkte sie mir zuvor noch einen kurzen Kuss und das offenbar nicht ganz grundlos. Sie kam nicht wieder.

Ewig lange habe ich gewartet und mir die Zeit mit Trinken vertrieben. Als dann wirklich nichts mehr da war und mir keine albernen Spielchen mit gefrorenen Grashalmen mehr einfielen, habe ich nachgesehen, ja ich habe mich sogar dazu verleiten lassen, ihren Namen durch den ganzen Park zu rufen. Mich überkam dabei ein komisches Gefühl, und ich dachte mir, dass ich darauf auch nicht freiwillig reagieren würde.

Aber es gibt Zeitpunkte, zu denen man einfach aufgibt, egal wie wichtig es einem ist. Dieser war bei mir relativ schnell erreicht. Ich machte mich auf zur Konzerthalle und verbrachte einen ziemlich netten Abend mit genialer Musik, immer auf der Suche nach Ann-Kathrin. Sie ließ sich nicht blicken. Irgendwann sah ich das ein und genoss das Konzert, das ich noch vor ein paar Stunden nicht besuchen wollte. Vielleicht war das ja der große Gewinn des Tages?

Abschließendes Fazit?

Keins!?