Keuschheitsgürtel im Mittelalter? Pustekuchen!

"Begrüßt unseren Gastredner zum Thema Keuschheitsgürtel!" "HALLO KEN!" Quelle: BenHur [GFDL], via Wikimedia Commons

„Begrüßt unseren Gastredner zum Thema Keuschheitsgürtel!“
„HALLO KEN!“
Quelle: BenHur [GFDL], via Wikimedia Commons

Es gibt viel Wissen, das man sich in der Kindheit, Jugend oder sonstigen jungen Jahren angeeignet hat und später nicht mehr überprüft, weil es einem nicht mehr wichtig ist, bei dem Thema auf dem Laufenden zu bleiben und andere Dinge zu tun hat. Und kaum dass man sich das nächste Mal umhört, hat Jupiter plötzlich mehr als 60 statt rund 25 Monde, einige furchteinflößenden Dinausaurier waren in Wirklichkeit Federvieh und Sergej Bubka hält gar nicht mehr alle Stabhochsprung-Weltrekorde. Was es nicht alles gibt!

Und dann gibt es so ganz besondere Tage, an denen mal sich in die tiefsten Abgründe des Internets bewegt hat und plötzlich zufällig erfährt, dass es wohl im Mittelalter gar keine Keuschheitsgürtel gab, die die Ritter ihren Frauen umlegten, während sie in die Schlacht zogen. Dabei hätte man es diesem zu Unrecht überhöhten sexistischen Pack durchaus zugetraut und hatte das immer als vermeintlich sicheres Wissen im Hinterkopf. Aber wer – wenn nicht gerade aus Fetisch-Gründen an den Teilen interessiert – käme je darauf, sich irgendwann über die frühere Verwendung von Keuschheitsgürteln Gedanken zu machen?

Vor ein paar Tagen erschien zu diesem Thema aber ein interessanter Artikel von Sarah Laskow auf Atlas Obscura, der genau das angeht: Everything you’ve heard about chastity belts is a lie.

Und das ist wohl nicht ganz unwahr, wie inzwischen auch schon eine Weile in der Wikipedia zu lesen ist.

Um es kurz zusammenzufassen: Ja, es gab Keuschheitsgürtel. Nachgewiesen ab etwa dem Jahre 1400 – was schon mal wesentlich später als angenommen ist. Man darf aufgrund der damaligen Gesellschaften zwar sicher nach wie vor davon ausgehen, dass die Dinger selten freiwillig von Frauen getragen wurden – sehr wahrscheinlich jedoch handelte es sich bei den eisernen Höschen wesentlich wahrscheinlicher um entweder gelegentlich verwendetes „Sexspielzeug“ im weitesten Sinne – oder gar um eine Art Folter- oder Strafwerkzeug. Denn bei den damaligen Hygiene-Bedingungen wäre ein längerfristiges Tragen derartiger Gerätschaften ein verdammt gefährliches Unterfangen gewesen – im Allgemeinen ist die Grundidee schon etwas wunderlich, wenn man bedenkt, wie eng Lust- und Entsorgungszentrum beim Homo Sapiens beeinander liegen und das Verhindern des Einen das Ausführen des anderen doch wesentlich beeinträchtigt.

Laskow weist in ihrem Artikel unter anderem darauf hin, dass viele Literaturhinweise auf noch frühere Keuschheitsgürtel durchaus auch metaphorisch oder sogar ironisch gelesen werden können, es vielleicht also nur verklausulierte „Herrenwitze“ waren oder Projektionen irgendwelcher erotischer Fantasien oder gar Ängste.

Die Idee der Keuschheitsgürtel und auch ihre Anwendung bekamen allerdings noch ihre Zeit.

Anscheinend wurde bei den meisten erhaltenen „mittelalterlichen“ Keuschheitsgürteln ein Fertigungsdatum um das 18. oder 19. Jahrhundert herum nachgewiesen, wo sie allerdings aus ganz anderen Gründen auch wirklich getragen worden sein sollen. Laut Wikipedia sollen Dienstmädchen in England derartige Vorrichtungen zum Schutz vor Vergewaltigungen getragen haben – eine bis heute hier und da auf der Welt sporadisch auftretende Idee, die zu Recht kritisch hinterfragt wird.
Auf der anderen Seite erhalten Keuschheitsgürtel ab dem 19. Jahrhundert vermehrt Zuspruch von Medizinern, die derartige Konstrukte für eine wirksame Methode zur Verhinderung der ach so schlimmen Masturbation hielten – was in Anbetracht des heutigen Wissens über Sexualität und Masturbation immerhin als so eine Art Rückbesinnung auf die Verwendung als Folterwerkzeug gedeutet werden könnte.

Vermutlich hat die Anwendung von Keuschheitsgürteln ihren Höhepunkt aber weder wie früher geglaubt im Mittelalter noch vor hundert Jahren erreicht, sondern heute. Und zwar als wirkliche Sexspielzeuge unter Menschen, die sie freiwillig tragen oder sich im Rahmen ihrer Fetische absichtlich mit ihnen kasteien lassen. Was abgesehen von medizinisch notwendigen Apparaturen auch wohl die einzige Geräteklasse sein sollte, mit denen man Genitalien konfrontiert.

Was indes abzuwarten bleibt, ist, wie lange sich der Mythos „mittelalterlicher Keuschheitsgürtel“ noch in der Kultur halten wird. Aber darum geht es bei Keuschheitsgürteln ja auch irgendwie: Ums Abwarten.

Quellen:

http://www.atlasobscura.com/articles/everything-youve-heard-about-chastity-belts-is-a-lie

https://de.wikipedia.org/wiki/Keuschheitsg%C3%BCrtel

https://en.wikipedia.org/wiki/Chastity_belt#Other_occurrences

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