Masern zwischen Wut und Weinen
|Dass Impfgegner mit den Masern einen recht tückischen Gegner haben, ist hinlänglich bekannt. Masern sind eine ausgesprochen ernst zu nehmende Krankheit mit dem i-Tüpfelchen, dass im besonders schweren Falle mit baldigem oder zeitlich verzögertem Ableben eine ziemlich endgültige Situation für die Erkrankten entstehen kann.
Nun ist auch Impfgegner nicht gleich Impfgegner. Es gibt sicher einen Haufen, der wegen mangelnder Vorstellungskraft in Sachen Medizin und Statistik den herumyoutubenden Wahnsinnspredigern mehr vertrauen als einem Arzt – und natürlich gibt es die komplett intellektallergische Fraktion, die die Existenz von hundert Jahre lang erforschten Dingen einfach nicht wahrhaben wollen. Der Bullshit- und Gefährdungsfaktor dieser Beteiligten ist schlimm genug. Deren Perfidie indes reicht nicht einmal ansatzweise an das heran, was Menschen wie Sara Koenen so von sich geben, wenn sie glücklich sinnierend einen Blogeintrag über die Beinahetötung ihrer eigenen Kinder schreiben.
Koenens Meisterwerk „Masern zwischen Mut und Meinung“ in der Rudolf-Steiner-Gedenkpostille „erziehungskunst“ lässt die gemeinsame Masernerkrankung der drei Kinder der Autorin nochmal Revue passieren und trägt geradezu bizarre Züge. Da informiert Koenen völlig korrekt über das Krankheitsbild der Masern, Begleiterscheinungen und Komplikationen – um im nächsten Moment umzuschwenken auf die Erkenntnis, dass es schon einen ziemlichen medialen Druck gäbe, wenn man sich wegen derartiger Lappalien nicht impfen lassen will oder gar während der Erkrankung Gemeinschaftseinrichtungen aufsuchen will.
Das Beste fürs Kind: die Bergwanderung
Die Autorin beteuert, ebenso wie alle impfenden Eltern das beste für ihre Kinder zu wollen und sich eben genau deswegen dafür entschieden hat, den Kindern diese wertvolle erste Fieberdeliriumserfahrung zu ermöglichen. Von einem Arzt hat sie die Worte aufgeschnappt, dass die Masern durchzumachen „wie in die Berge gehen“ ist. Dieser schöne Satz, sicher genau so und mit einem Alpenpanorama bebildert in Schnörkelschrift auf irgendeiner Esoteriker-Facebookseite zu finden, beeindruckte die Mutter so nachhaltig, dass sie beginnt, über Bergwanderungen zu sinnieren. Also dass es anstrengend ist, aber man am Ende einen schönen Ausblick hat. Dass in der Metapher der Bergwanderung auch die dunklen Seiten ihre Bedeutung haben, erkennt sie durchaus:
„Manche sind umgekehrt. Manche haben es nicht geschafft.“
Die Rückübersetzung in die Realität, nämlich „Deine Kinder könnten die Scheiße, die Du ihnen einbrockst, nicht überleben!“, die bleibt indes aus. Ganz egal, was Oberschlaubi Rudolf früher orakelt hat: Im Gegensatz zu Bergwanderungen sind Krankheiten ein bisschen kompliziert abzubrechen, wenn man sie nicht mehr aushält. Deswegen ja eigentlich die lustige Idee mit der Impfung.
Aber Bergwanderungen sind halt zu toll, um sie den Kindern vorzuhalten.
Eine selbstgefällige Reise zum eigenen Ego
Geradezu voyeuristisch begleitet Koenen nun den Weg ihrer Kinder vom ersten Schwächeln bis ins Krankenhaus. Sie macht sich lustig darüber, dass ein gegen Infektionskrankheiten geschütztes „Ufo-Team“ ihre Kleine abholt und dass die Ärzte alle neugierig sind, weil es ja kaum noch Masern gibt und sie das alles sehen wollen. Na guck an, kaum bringt man seine Kinder in Lebensgefahr, findet sich sogar irgendwer, der dem Ego-Trip der Mutter zuliebe auch noch Fotos von den Kleinen machen will. Hach! Und man stelle sich vor: Das Fieber der kleinen Maya war auch gar nicht läppische 39,6°C hoch, wie von Mami gemessen, sondern 40,3. Man vermutet fast, die Zahl steht jetzt irgendwo im Kinderzimmer als Andenken in einem Bilderrahmen herum, neben zwei Urkunden vom Sportfest.
Ja, die Kinder von Sara Koenen haben die Masern so wie es aussieht komplikationslos überstanden. Wobei man bemerken sollte, dass auch diese Komplikationslosigkeit bedeutete, dass die Kleinen die ganzen Osterferien krank im Bett verbringen mussten und es bis zur völligen Genesung weit über einen Monat gedauert hat. Eine Zeit, in der man sicher mehr als einmal in die Berge hätte fahren können. Und währenddessen hat nicht mal Koenen sonderlich schöne Worte für den Zustand der Kinder finden können. Bei allem Besten, was sie ihnen angeblich wollte, liest sich der Bericht doch eher wie die bizarre Innenansicht eines Münchhausen-Stellvertetersyndroms.
Aber es hat funktioniert! Überraschung!
Der verqueren (und längst widerlegten) Logik von Steiner und Koenen nach war das natürlich ein voller Erfolg. „Einen großen Entwicklungssprung“ glaubt die in der ganzen Geschichte natürlich vollkommen unvoreingenommene Mutter bei den drei Kindern festzustellen, es ist alles Friede-Freude-Eierkuchen und außerdem waren die Masern aber auch echt mal wieder eine tolle Abwechslung, bei der sie wieder mal ein bisschen mehr Zeit mit den Kindern verbringen konnte. Ja, in der Conclusio-Passage von Koenens Artikel geht es schon lange nicht mehr um rationale Gründe, seine Kinder (nicht) zu impfen, sondern darum, dass Masern ein prima Kontrastprogramm zu Arbeitsalltag und Leistungsdruck seien. Dass sie sogar die Aussage der kleinen Maya, ihre Kinder dürften dereinst auch Masern bekommen, irgendwie als erfreulichen Beleg dafür anführt, wundert einen da auch nicht mehr. Dass ihrem Kind dieser Wunsch „ganz oben auf dem Gipfel des Fiebers“ über die Lippen gekommen sei, steht da nämlich auch noch. Schwarz auf weiß. Und erkennbar ohne Ironie oder den Hauch einer Reflektion.
Wut und Weinen statt Mut und Meinung
Dass Koenen ihren Kindern nicht eigentlich was Böses wollte, trifft sicher zu. Anstatt sich aber für den kleinen Pieks einer Impfung entschieden zu haben, prahlt sie im Internet damit, dass sie ihren Kindern einen Monat lang sämtliche Lebensqualität genommen und sie zudem in große Gefahr gebracht hat. Und das alles, weil sie der hundert Jahre alten Theorie eines Spinners Glauben schenkt, der Krankheiten für Störungen im Ätherleib hält und den Körper des Menschen in völlig irrsinnige Bestandteile zerlegt, um seine nichtwirksame Medizin zu erklären.
Die Genesung der Kinder gibt dem Ganzen ein versöhnliches Ende und man könnte sich als Nicht-Anthroposoph einfach mit dem Handrücken über die Stirn wischen und „Puh, Glück gehabt!“ stöhnen. Andererseits möchte man heulen vor Wut, wenn man daran denkt, dass irgendwer diesen Heititeiti-Bullshit lesen muss, dessen Kinder bei dieser „Bergwanderung“ „umgekehrt sind“ und „es nicht geschafft haben“. Vielleicht sogar ohne bewusste Entscheidung, sondern weil die Kinder nicht geimpft werden konnten und sich in der Nachbarschaft Menschen wie Sara Koenen einfach mal eine Bergwanderung gewünscht haben, bei der sie nicht vom Sofa aufstehen müssen, weil ihre lieben Kleinen gerade so süß im Fieberdelirium Walddorf-Propaganda nachbrabbeln.
Man möchte kotzen ob so viel Ignoranz.
Quellen:
http://www.erziehungskunst.de/artikel/fruehe-kindheit/masern-zwischen-mut-und-meinung/
https://de.wikipedia.org/wiki/Anthroposophische_Medizin
Andere skeptische Stimmen zum Artikel:
https://dieausrufer.wordpress.com/2015/09/20/steiners-schatten-ueber-kindergraebern/
Ich bin heilfroh, dass man heutzutage gegen vieles und vor allem gegen viel mehr als früher impfen kann. Ich bin zwar gegen alles geimpft, was in den 1970er- und 1980er-Jahren empfohlen wurde, ärgere mich aber, dass die jetzt umfangreichen neuen Möglichkeiten bei Erwachsenen nicht nachgeholt werden. Als mein Vater mit 40 (!) an Windpocken erkrankte (mit Blitzevakuierung von mir zur Oma) war das nicht besonders witzig. Insofern hoffe ich, dass wir Erwachsenen über unsere geimpften Kinder quasi den Herdenschutz bekommen.
Einzig und alleine beim Fieber (bei normalen Krankheiten) sind meine Frau und ich uns immer unsicher. Lässt man das Kind jetzt in gewissen Grenzen fiebern oder drückt man es konsequent runter. Unser (normal-schulmedizinischer) Kinderarzt kann uns auch leider nur sagen, dass die Forschung die Bedeutung des Fiebers nicht in allen Details kenne. Zum Abtöten von Krankheitserregern steigt das Fieber nicht hoch genug, es wird wohl allgemein als Begleiterscheinung von Infekten angesehen. Als Resultat senken wir Fieber halt nachts für einen besseren Schlaf ab, ansonsten müssen meine Kinder den Infekt halt unter Beobachtung durchmachen. Bei Virusinfekten hilft leider nicht viel anderes, bei bateriellen Infekten gibt es immerhin noch Antibiotika.
Was mich an der Geschichte am meisten ärgert, ist nicht die Ignoranz der Mutter oder deren unverantwortliches Verhalten. Es ist das Verhalten der Redaktion der „erziehungskunst“. Es hagelte kritische Kommentare im Minutentakt auf deren Facebookseite, die – immer in Schüben – samt und sonders weggelöscht wurden. Und zwar auch diejenigen, bei denen in keinster Weise Unsachlichkeit oder gar Diffamierung zu erkennen war. Natürlich wurden auch diejenigen Kommentare weggelöscht, die das Löschen der kritischen Stimmen bemängelten. Und fleissig wurden alle kritischen User geblockt.
Auf der eigentlichen Webseite der „erziehungskunst“ werden die Kommentare ohnehin moderiert. Natürlich werden keinerlei kritische Kommentare freigeschaltet, sondern nur diejenigen, die die Autorin und ihren Beitrag in den höchsten Tönen loben.
Ich erkenne durchaus an, dass die Redaktion der „erziehungskunst“ das Hausrecht auf ihren Seiten hat. Was mich ärgert, ist jedoch, dass eine Zeitschrift, die für die Veröffentlichung eines derart kontroversen Beitrags verantwortlich zeichnet, alles daransetzt, den Eindruck zu erwecken, als gäbe es gar keine Kritik daran. Das Gegenteil ist jedoch wahr. Hunderte von Facebook-Kommentaren wurden gelöscht und die User blockiert – ein paar wenige dem Artikeltenor freundlich gesonnene wurden stehengelassen. Es soll bitte so aussehen, als habe es ausser Verstössen gegen die Netikette nie kritische Kommentare gegeben. Das ist in meinen Augen das größte Ärgernis. Wenn man meint, krude Ansichten einer Privatperson als Zeitschriftenbeitrag veröffentlichen zu müssen, sollte man eine sachliche Debatte darüber zulassen. Aber der „erziehungskunst“ war wohl ihr heiles Waldorf-Weltbild wichtiger.