Teststrecke
Stuttgart ist eigentlich nicht die schlechteste Stadt, um langsam erwachsen zu werden. Natürlich hat sie noch nie den sagenumwobenen Flair einer richtigen Metropole gehabt, dafür gibt es hier Dinge, nach denen man sich in Berlin und Hamburg umsehen kann, ohne sie je zu finden.
Zum Beispiel die Teststrecke von Mercedes-Benz.
Gespeist aus Rollenbild-Klischees und tatsächlicher frühpubertärer Veranlagung habe ja auch ich einen Teil meines damals noch jungen Lebens dem Automobil gewidmet. Zum Teil war dafür sicher auch die Tatsache verantwortlich, dass in Stuttgart allgegenwärtig ist, dass die Erfindung des Autos nur um die Ecke geschah und somit trotz einhundertjähriger Zeitdifferenz irgendwie zwingend zu einem gehört und die Identität mitbestimmt. Oder zumindest einen der Gehaltsschecks, der die Familie ernährt.
Mich als kleinen Bub irgendwo zwischen den letzten Legosteinen und den ersten Schamhaaren interessierten in erster Linie zwei Dinge: Formen und Zahlen. Erstmal war bei Autos die Form von Interesse. Ein Auto war kein schnöder täglicher Werkgegenstand, der einem das Reisen erleichterte, sondern Faszination und Kunst! Design! Völlig im Unklaren, weswegen dieses Wort so blöd geschrieben wird, vertiefte ich mich mit Andi in Diskussionen über diesen und jenen Karosserie-Part, die Markentreue der neuen Linie und nebenbei malten wir den Autokonzernen Zukunftsautos herbei, die mindestens besser waren als das, was ein Heer überbezahlter sogenannter „Designer“ denen offenbar beim letzten Facelift als den neuesten Schrei verkauft hatten. Und wenn man eine Form nicht begründen konnte, dann ging es um Zahlen. Im Zweifelsfall war ein PS ein Argument und jede Form ließ sich mit einem geringeren cw-Wert rechtfertigen.
Hätten wir nicht nebenbei auch die Bravo gelesen, könnte man sagen, dass unsere Bravo die AutoBILD war. Im Gegensatz zu unseren ignoranten Eltern waren wir stets auf dem Laufenden über die neuesten Modelle und kannten Typenbezeichnungen von Fahrzeugen, bei denen Normalsterbliche noch nicht einmal das Fabrikat unter zwei Herstellern hätten erraten können.
Kurz gesagt: Unsere Prognosen entsprachen dem Zufall und unser Geschmack dem Durchschnitt.
Aber – man wird verächtlich sagen, dass ausgerechnet das in unserer Herkunft begründet liegt – wir waren keine weltfremden Kinder mehr im Frühling 1996. Wir waren Geschäftsmänner!
Während das Interessengebiet der meisten Mitschüler lediglich Zeitschriften umfasste, in denen die abgebildeten Frauen ihren BH ablegten, fuhren wir ab auf Erlkönige: Neue Modelle der Autokonzerne, noch getarnt durch Klebefolien und irreführende Aufbauten, um die Konkurrenz über das Design zu täuschen. Und, ok, natürlich auch auf Zeitschriften, in denen die abgebildeten Frauen ihren BH ablegten.
So zählte die Teststrecke von Mercedes-Benz tatsächlich zu unseren Lieblings-Ausflugspunkten. Zu gute kam uns dabei, dass Mercedes diese Teststrecke mitten in der Stadt liegen hatte – knapp noch in Cannstatt zwar, dennoch leicht zu erreichen mit den öffentlichen Bussen. Busse, die irgendwann wahrscheinlich selbst über diese Teststrecke geholpert sind.
Man macht sich als Laie ja keinen Eindruck von so einer Anlage: Steilkurven, Rüttelpisten, Geschwindigkeitsmessungen. Alles obskure und dennoch wohlbekannte Einrichtungen, über die wir mehr gelesen haben als über die New Kids on the Block – obwohl man in der Bravo die Artikel über die New Kids on the Block natürlich auch gelesen hat, wenn man die interessanten Interviews schon durch hatte und selbst den Schamhaarwuchs der nackten Gleichaltrigen bereits mehrfach mit dem eigenen verglichen hatte.
Die Teststrecke von Mercedes-Benz jedenfalls war damals nicht so schwer zu finden wie die nackten Gleichaltrigen: Der 56er hielt sowohl am Gaskessel als auch an der Schleyer-Halle, die Brücke zwischen den beiden Haltestellen überspannte nicht nur die B10 und den Neckar, sondern eben auch den nördlichen Ausläufer der Testanlage. Dies war zwar nur der kleine Teil der Strecke, aber immerhin war hier eine von der Brücke aus zu lesende Geschwindigkeitsanzeige angebracht. Zahlen! Hier haben wir lange Zeit auf immer neue Rekorde gehofft. Auf einen Sportwagen vielleicht, der mal über 250 km/h schafft. Meist waren es aber die immerselben Kombis, die dort mit Geschwindigkeiten fuhren, die wir von der Autobahn auch kannten. Von der Brücke konnte man aber überdies noch die Steilkurve einsehen, eine Einrichtung, die unsere automobilfixierte Vorstellungskraft fesselte wie kaum etwas anderes.
Wie musste man in einer Steilkurve eigentlich lenken? Wie schnell konnte man da durchrasen? Kratzen LKW und Busse in Schräglage nicht am Zaun an der Innenseite und wie geil wäre es wohl erst, von dort aus die Autos zu sehen.
Und zu fotografieren.
Wie ich bereits schrieb: Wir waren Geschäftsmänner. Oder Journalisten. Beides. Mindestens! Denn wir beschränkten unsere Versuche nicht darauf, uns hin- und herflitzende Daimler anzusehen, sondern wir wollten Geld verdienen. Und wir taten es. Wenn auch nur einmal.
Seit Beginn des Jahres 1996 begaben wir uns niemals ohne Foto-Apparat zur Teststrecke. Die umherrasenden Fahrzeuge mussten auf Film gebannt werden, denn Bilder von noch geheimen Testfahrzeugen wurden immer wieder in unseren Zeitschriften, den Auto-Zeitschriften, abgebildet. Zigfach. Deswegen – und um die neusten Modelle zu bewundern und uns in Gedanken ihre Tarnung wegzudenken – standen wir dort in Cannstatt auf der Brücke und am Zaun. Neben Andi und mir war hier und da noch Flori dabei – und der hatte den wichtigsten Ausrüstungsgegenstand mitgebracht: Ein Teleobjektiv seiner Eltern.
Irgendwoher glaubten wir zu wissen, dass die Zeitschriften auf Fotos von Erlkönigen nur so brennen und horrende Beträge dafür zu zahlen bereit waren. Da konnte man ruhig mal ein paar Mark in die Waagschale werfen, sprich: teure Filme verknipsen.
Da wir jedoch nicht völlig gehirnamputiert waren, stellten wir irgendwann fest, dass die wirklich guten Fotos – solche wie die abgedruckten – nie von Orten wie unserem aufgenommen worden sein konnten: Von hinten, von vorne, sonst nix.
Nein, die richtigen Profis machten Aufnahmen im Halbprofil, wo die ganze Schönheit der PS-Boliden (ja, wir glaubten damals, das sei ein verbreitetes Wort!) auf einem Bild eingefangen werden konnte.
Nur dazu taugte die Brücke nichts. Und durch verschiedenste Beobachtungsexperimente und logisches Nachdenken erschloss sich uns der Grund dafür, weswegen wir bislang so erfolglos waren:
Natürlich war der Konzern nicht so blöde und schickte die neuesten und geheimsten Autos perfekt für Profi-Fotografen wie uns einfach auf die nördliche Schleife. Pah!
Bilder von einer öffentlichen Brücke aus konnte ja jeder schießen! Sogar Touristen aus dem Bus. Also mal abgesehen davon, dass der 56er in Stuttgart sicher einer der Busse war, die die wenigsten Touristen beförderten, wäre das ja irgendwie schon dämlich gewesen.
Südlich der Brücke setzte sich die Teststrecke noch endlos fort, eine viel größere und geheimere Welt, die komplett hinter meterhohen Sichtschutzmauern und Stacheldraht versteckt war. Aber prinzipiell zugänglich.
Das Gelände schmiegte sich – und schmiegt sich meines Wissens nach noch heute – direkt an den Uferweg des Neckars, lediglich besagte Mauer trennte uns also von all den Träumen.
In den Frühlingswochen haben wir das mehrere Quadratkilometer große Areal mehrmals von außen umschritten, immer auf der Suche nach Plätzen, von denen aus man gut fotografieren konnte. Oder um es etwas genauer auszudrücken: Plätze, an denen uns Äste, Rohre, Hügel oder sonstige Hilfestellungen der näheren Umgebung erlaubten, einen Blick über die unvorstellbar hohe Mauer zu werfen.
Mehr als einmal sind wir dabei auf andere Fotografen getroffen, wirklich zu sagen hatte man sich nichts. Natürlich wurden wir damals nicht für voll genommen. Wir selbst taten es ja auch nur in höchst ungewissem Maße. Während einige der Männer mit Wechselobjektiven und sportiver Ausrüstung sich dort wahrscheinlich ihren Lebensunterhalt verdienten, war es für uns eine Art Spiel mit dem potenziellen Ergebnis, reich zu werden. Alleine die Idee, das was wir täten, könnte Arbeit sein, verbot sich. Geld bekamen wir von unseren Eltern – und wir drei gehörten gewiss nicht zu den besonders benachteiligten.
Unser Aufwand, ein paar Fotos von Mercedes-Testwagen zu bekommen, steigerte sich also teils ins Unermessliche. Längst war uns bekannt, dass man auch einfach irgendwo bei der Schleyer-Halle warten konnte, bis einer der Prototypen direkt im Stadtverkehr auftauchte. In jugendlichem Leichtsinn ist Flori dereinst sogar einfach auf die Straße gerannt, als dort ein neues C-Klasse-T-Modell auftauchte und fotografierte unter wildem Protest des Fahrers das Interieur des Autos, woraufhin wir unsere jugendlichen Sprint-Qualitäten einmal mehr trainieren mussten. Aber das war eben Kinderfasching gegen die ganz großen Fische. Wir wollten den südlichen geheimen Teil der Strecke erkunden, die Erlkönigsklasse quasi.
Als es uns auf diesem Weg an einem sonnigen Tag entlang der VfB-Vereinsgaststätten auf der Ostseite des Testgeländes entlangtrug, entdeckten wir hervorragende Voraussetzungen unweit eines dieser Sportzentren: Drei große Mülltonnen, die abseits vom Gelände, dafür direkt an der Mauer zu unserer Traumwelt standen. Es war einfach zu perfekt, um es nicht zu versuchen. Irgendwann standen wir dann dort, zu dritt, jeder auf seiner eigenen Mülltonne. Selbst ich als Sport-Null hatte es irgendwie hinbekommen, mich darauf zu postieren, ohne dass dieser Versuch damit endete, in einem Haufen Altpapier auf dem Cannstatter Boden zu liegen.
Wir konnten eben so über die Mauer spähen und hatten nicht den schlechtesten Platz. Überragend war er auch nicht, uns bot sich nur ein schmaler Blickwinkel, aber das Festhalten der ein oder anderen Kiste auf Fotos war uns durchaus möglich. Der Ärger, der uns drohen sollte, kündigte sich in dunklem Grollen an: Der Vereinsgastwirt brüllte über seinen dicken Bauch hinweg uns Halbstarke an und fluchte in tiefstem Schwäbisch, bis unser Selbstvertrauen unter Null lag. Er bezichtigte uns nicht nur der totalen Zerstörung seiner wunderschönen und teuren Mülltonnen, sondern drohte uns gleichzeitig mit einer Anzeige wegen Industriespionage, während wir ihm eingeschüchtert und mit hängenden Köpfen in die Gaststätte folgten.
Glücklicherweise überließ er uns recht bald seiner Frau, die uns beruhigte und uns erst einmal jedem eine Cola aufs Haus spendierte.
Wir, ein wenig gefangen in unserer Angst, konnten vor allem eines nicht fassen: Dass die beiden mit dieser Goldgrube vor der eigenen Haustüre nicht selbst jeden Tag auf den Mülltonnen standen um Autos zu fotografieren.
Wir gingen letztlich straffrei aus. Vielleicht konnte er die Polizei gar nicht überreden zu kommen und vielleicht hat auch seine Frau ihn von unseren dahergestammelten Erklärungen überzeugen können, dass die leicht verbogenen Mülltonnendeckel sich von selbst wieder auszudellen vermochten. Dass wir nie wieder dort hinaufsteigen würden, versicherten wir natürlich artigst.
Dorthin sind wir auch nie zurückgekehrt.
Wenige Wochen später saßen wir in der Innenstadt im Foyer der Motor Presse Stuttgart, gewissermaßen dem Herz unserer Welt. Hier also wurde „Auto Motor und Sport“ gemacht, die vielleicht tatsächlich hochwertigste Autozeitschrift überhaupt. Hier waren die Profis, hier war Geld. Unser Geld, selbstverständlich. Im Gegensatz zum unscheinbaren Äußeren des Verlagsgebäudes, das eine Art Kollateralschaden der 70er in Punkto Design zu sein schien, herrschte im Foyer gemütliches Hotel-Ambiente vor, für uns Halbwüchsige also in erster Linie Luxus, Protz und beeindruckende Möblierung.
Was dann passierte, war in unseren Augen klar: Endlich nahm man uns als Geschäftspartner ernst, man erkannte unser Talent und wir wurden – zumindest inoffiziell – auf den Podest der wichtigsten Fotoreporter des Landes gehoben.
Heute vermute ich eher, dass sich die Empfangsdame und irgendein Bürohengst liebevoll um uns als kleine Fans gekümmert hat, um unsere Mühen ein wenig zu belohnen und uns als Käufer ihrer Produkte zu halten.
Aber wie dem auch sei: Unsere Nachfrage im Foyer, wohin wir uns wegen zu verkaufender Fotos zu wenden hätten, hatte Erfolg. Nach nur kurzem Warten erschein ein in unseren Augen unglaublich alter Mann, der mit seinem Business-Outfit und einer kryptischen Berufsbezeichnung von uns umgehend als Autorität anerkannt wurde.
Er führte uns in ein dunkel getäfeltes Büro und ließ uns an einem runden Tisch unsere Ware ausbreiten. Mit scheinbar fachkundigen Blick sortierte er die 90% der Fotos aus, die zweifelsohne völliger Müll waren: unscharf, verwackelt oder gleich ganz ohne vollständiges Motiv darauf. Selbst Bilder, auf die all das gleichermaßen zutraf, hatten wir mitgebracht.
Der alte Mann murmelte ein paar anerkennende und ein paar hilfreiche Phrasen und entschied sich dafür, 5 unserer Fotos zu kaufen. Er bot uns dafür 450 Mark. Nüchtern betrachtet war das natürlich nichts. Wir waren dafür zu dritt etliche Stunden durch Cannstatt geklettert, haben Filme verknipst, deren Entwicklung weit über 50 Mark gekostet hatte, haben uns von schwäbischen Gastwirten beschimpfen lassen und wären um ein Haar lebenslänglich hinter Gittern gelandet. Aber verdammt, es waren 450 Mark! Für nichts! Wir waren reich!
Das Hochgefühl, mit dem wir das Verlagshaus verlassen haben, ist kaum zu beschreiben. Vielleicht war es ähnlich dem, das ich nach der letzten Abiturprüfung Jahre später verspürte, allerdings lag hier wesentlich mehr kindliche Faszination bei. Abgesehen von dem vielen Geld (knapp 100 Mark pro Person nach Abzug aller Kosten) waren wir jetzt dabei. Wir kannten den Typen bei der Motor Presse! Wir kannten das Büro, wo man den Fotografen mit besonderem Einsatzeifer die immensen Geldsummen bezahlte. Und natürlich erzählten wir davon. Egal, ob es die anderen interessierte oder nicht: Wir waren die Kings of Capitalism, wir waren ab jetzt reich. Hochgerechnet auf die zu erreichbare Anzahl an Fotos, Tagen im Jahr, Mark pro Bild und Verlage pro Land waren wir binnen Jahresfrist Millionäre.
Aber so kam es natürlich nicht. Die Teststrecke wurde im Verlauf des Jahres 1996 immer unwichtiger für mich und ich sollte nie mehr als Profi dorthin zurückkehren.
Wenn ich heute zufällig mal wieder in meiner Heimatstadt bin und den Neckar überquere, strecke ich meinen Kopf immer ein wenig, um zu sehen, ob die Geschwindigkeitsanzeige noch funktioniert. Aber wie zu erwarten war: neue Rekorde gab es seit damals nicht mehr.